Erfurt und die Konsequenzen
SZ 13 05 02
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel2481.php
Der furchtbare Brief des Ministers
Was bedeutet es, wenn der Thüringer Kultusminister den Eltern des Amokschützen Robert Steinhäuser einen Brief schreibt? Was hat es zu sagen, wenn er darin ausführt, die „Bluttat und der ursprüngliche Anlass“ stünden in „einem völligen Missverhältnis“ zueinander? Es heißt natürlich zuallererst, dass es ein Verhältnis gibt. Je mehr über die Umstände der Morde von Erfurt bekannt wird, desto unheimlicher wird eine Schulpolitik, die sich zum Ziel gesetzt hat, die besten Gymnasiasten in Deutschland hervorzubringen. Und dabei so rücksichtslos ist, scheiternden Abiturienten nicht einmal einen Hauptschulabschluss, geschweige denn die Mittlere Reife zuzuerkennen – so, als beherrsche jemand, der neun Jahre lang die Höhere Schule besucht hat, nicht einmal die elementaren Kulturtechniken. In jenem Brief schreibt der Kultusminister auch, Robert Steinhäuser sei von der Schule „verwiesen“ worden.
Das ist er aber nicht. Denn ein Schulverweis hat nach Paragraph 52 des Thüringer Schulgesetzes einem komplizierten juristischen Verfahren zu
gehorchen: Der betroffene Schüler muss eine „wesentliche Gefahr“ darstellen, er muss in seiner prekären Lage „pädagogisch und psychologisch betreut“ worden sein, und all dies hat nach dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ zu geschehen. In Erfurt ist keine diese Sicherungen beachtet worden. Statt dessen wurde das Schulgesetz umgangen, so als beruhe die höhere Schulbildung auf einem Arbeitsvertrag zwischen Schüler und Schule, für den nur ein eingeschränkter Kündigungsschutz gelte: Der Schüler wurde zu einem „Schulwechsel aus wichtigem Grund“ gedrängt, für den weder die Eltern noch die Lehrerkonferenz und die Eltern- und Schülervertretung gehört werden müssen.
Gewiss, man versteht das Interesse einer Schule, sich von einem Schüler, der keiner sein will, auf pragmatische Art trennen zu können. Doch wird dieser Pragmatismus verdächtig, wenn sich dahinter ein Schulsystem verbirgt, in dem ein Scheitern mit der Aussicht verbunden ist, nie eine bürgerliche Existenz führen zu können. Wer wie der Kultusminister von Thüringen die Elite mit den Mitteln der Selektion erzwingen will, der muss jeden Ausschluss formal legitimieren können. In Erfurt hat es eine solche Legitimation nicht gegeben. Und deswegen schreibt der Kultusminister so furchtbare Briefe.
tost
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