Süddeutsche Zeitung 13 05 03 Teil 1

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Gegen das Trägheitsgesetz

Unangenehme Fragen zur Lernanstalt / Von Hartmut von Hentig

Kann man im Mai 2002 über die Zukunft der Schule reden, ohne auf die Bluttat von Erfurt einzugehen? Man kann, wenn man in der Schule nicht den Generator der Gesellschaft und in der Gesellschaft nicht den alleinigen Auftraggeber der Schule sieht, sondern die Schule für ein notwendiges, aber begrenztes Mittel hält, Kindern dabei zu helfen, in der Welt, wie sie ist, erwachsen zu werden.

Im letzten Beitrag unserer Reihe zur Zukunft der Schule schreibt heute Hartmut von Hentig. Bis zu seiner Emeritierung 1988 leitete der Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld zwei schulische Reform projekte. Von ihm erschienen zuletzt „Warum muss ich zur Schule gehen?“ (2001) und „Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben“ (2002).

Die Schule wird sich dabei nicht an Ausnahmeerscheinungen orientieren; für Unvorhersehbares ist sie nicht gedacht. Sie hat es schwer genug, den gewöhnlichen Schicksalen, Schwierigkeiten und Chancen der Zeit gerecht zu werden. Brutale Computerspiele, Gewaltdarstellung in Film und Fernsehen, Konkurrenzkampf und Karriere, Schützenverein und Schulverweis sind Bestandteil des normalen Lebens – ob Robert Steinhäuser und seine Seelenlage den Ausnahmefall bilden, weiß bisher keiner. Auch Statistiken, Täterprofile, Typologien der so genannten Amokläufer machen aus deren Nöten keine „erwartbaren“ Aufgaben für die Schule.

Damit will ich andeuten, dass es keinen Sinn hat, auf die Frage dieser Artikelserie nun selbstgewiss zu antworten: Wir wollen eine Schule, in der sich „Erfurt“ nicht ereignet! Eine solche Antwort ist unbrauchbar, weil sie eine Selbstverständlichkeit ausspricht und weil wir diese Schule längst
haben: An mehr als 30000 Einrichtungen des deutschen Bildungswesens greifen rund 9 Millionen junge Menschen an 365 Tagen im Jahr nicht zur Waffe und töten nicht.

Die Antwort ist auch dann unbrauchbar, wenn die Bedingungen aufgezählt werden, die dies sichern sollen. Drei Viertel der hierzu gemachten Vorschläge liegen richtigerweise außerhalb der Schule. Der Rest, der die Schule betrifft, ist so widersprüchlich wie hilflos: „Diskussionen über Werte“ und Metalldetektoren am Eingang, „Thematisierung der Gewalt“ und Rückzug auf „reine Wissensvermittlung“, das Lernen von „konstruktiver Frustrationsbewältigung“ und Video-Überwachung im ganzen Schulgebäude.

Es ist gut, wenn uns ein Vorfall wie jener von Erfurt nachdenklich macht – die aufgezählten Reaktionen hingegen muten vorlaut an. Ich begnüge mich mit dem Rat: Achtet alle besser aufeinander. Keine Einrichtung, keine Belehrung, kein Verbot oder Gebot kann die Wirkung dieser Mühe ersetzen.

Gleichwohl ist eine Debatte über die Zukunft der Schule, wie sie in der Süddeutschen Zeitung geführt worden ist, aus vielerlei Gründen nötig. Mir gefällt daran, dass wir endlich die richtige Reihenfolge einhalten – erst fragen, was wir wollen, und dann darüber nachdenken, wie wir das zuwege bringen. Indem wir meist – wie auch diesmal nach „Pisa“ – gleich über Maßnahmen, Strukturen, Organisierbares reden, verbergen wir voreinander, eine wie gänzlich andere Schule wir bei oft identischen Verbesserungsvorschlägen im Sinn haben. Wer zum Beispiel die Schulzeit verlängern will, kann damit die gleiche Wirkung erstreben, wie einer, der ihre Verkürzung will: eine Verringerung des formalisierten Lernens zugunsten eines freieren Erfahrungslernens in einem Sachkontext. Mit beidem kann man aber auch eine strengere Verregelung und Vereinheitlichung des Unterrichts erreichen wollen.





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