Süddeutsche Zeitung 13 05 03 Teil 2
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel2478.php
Gegen das Trägheitsgesetz
Unangenehme Fragen zur Lernanstalt / Von Hartmut von Hentig
In riskanter Gesellschaft
Vielleicht wäre es noch richtiger, wir würden zuerst fragen, um welche Bildung es uns geht. Dann können wir sinnvoll nach der Schule fragen. Und müssten wir nicht zuvor auch das fragende Subjekt klären: Wer ist mit „wir“ gemeint? Wer darf für „uns“ sprechen? Oder gar: Muss es hier einen gemeinsamen Willen geben – wie bei der Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind, Embryonen „verbrauchen“ dürfen, uns an den amerikanischen Antiterrorismusmaßnahmen beteiligen, die Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit entschädigen? Dies alles entscheiden wir in begründeten demokratischen Prozeduren, deren Ergebnis wir den Volkswillen nennen. Muss es ihn auch für die Bildung und Erziehung geben, zwei ineinander verschränkte, doch hochindividuelle Vorgänge?
Der Pädagoge ist für die Beantwortung der Frage, welche Schule wir wollen, nicht besser legitimiert als jeder Vater und jede Mutter, selbst der kinderlose Bürger. Der Pädagoge kann sagen: Das und das wird zu dem und dem führen – oder nicht. Er kann über the ways and means urteilen, über Absichten und Ziele hat auch er nur Meinungen. Und was er über die Anlässe und Gegenstände, die Verfahren und Situationen, die Orte und Zeiten, die Erfolgskriterien und –nachweise sagen kann, ist alsbald so kompliziert, dass niemand mehr zuhören will. So ist es nicht verwunderlich, wenn dabei entweder Utopien herauskommen oder Empfehlungen für Einzelreparaturen am Gegebenen, durch die das erwiesenermaßen Misslungene wieder in Ordnung zu bringen sei.
Alle in der SZ wiedergegebenen Antworten auf die Leitfrage waren von der letzten Art: Schreibend und lesend werde man zum kultur- und überlebensfähigen Wesen, also weg mit dem schulfremden Aufgaben! Nein: Die Disziplinierung des Lebens sei notwendig, also weg vom Blendwerk der „Kindgemäßheit“! Im Gegenteil: Das Korsett der allgemeinen Lehr- und Zeitpläne müsse abgestreift, das individuelle, freie, aktive Lernen wieder erfahren werden! Aber doch bitte „Pisa“ ernst nehmen, lernen, „was man wissen muss“, also „einen Katalog der wichtigsten Phänomene zusammenstellen, ohne die Mathematik, Chemie, Physik, Biologie und Geowissenschaften nicht zu verstehen“ seien. Schließlich: Projekte und Modellversuche mit dem Ziel „demokratische Bildung“. Oder auch: „Mathematik als Abenteuer“.
Das alles kann man „wollen“, es ergibt jedoch kein Maß für „die Schule“. Seit es Pädagogik gibt, hat sie eine klare Aufgabe: das unfertige Menschenkind solchen Erfahrungen, Herausforderungen, Bestätigungen, Übungen auszusetzen, die es befähigen, in seiner Kultur zu leben. „Kultur“ ist nicht einfach ein Zustand, sondern ein Maßstab. Diesen Auftrag hat die Gesellschaft entweder selbst ausgeführt, solange sie nämlich noch klein und überschaubar war, etwa in der griechischen Polis, oder einer Schule genannten Einrichtung übertragen, seit sie groß und komplex und deshalb darauf angewiesen ist, dass alle Mitglieder die gemeinsamen Formen der Erkenntnis und die gemeinsamen Regeln des Handelns kennen. Vollends in der technischen, demokratisch verfassten Zivilisation sind Ungebildete ein Risiko. Menschen mögen nach eigenem Maß stark oder schwach, faul oder feige, naturliebend oder kunstliebend sein, sofern sie aber nicht für Argumente zugänglich u nd mit einer aufgeklärten Vorstellung von den gemeinsamen Lebensbedingungen versehen sind, gefährden sie viele andere.
Flucht aus der Urteilskraft
Die Lebensbedingungen ändern sich. Über die Notwendigkeit und Maßgeblichkeit solcher Veränderung bestimmen weder die Schulen noch die Eltern; dies tut die Gesellschaft. Das ist keine angenehme Wahrheit. Wer das sagt, macht die Pädagogik von der Gesellschaft abhängig. Er scheint den Pädagogen den noblen Auftrag zu nehmen, dem Individuum zu seiner Verwirklichung zu verhelfen, ja er scheint sie ihrer weltverbessernden, korrigierenden Funktion zu berauben. Ich meine das Gegenteil: Nur wer sich die Macht der Verhältnisse bewusst gemacht hat, kann ihnen gegenüber – den Organisationen, den Systemen, den aggregierten Mitteln, der herrschenden Meinung – frei sein. Mit anderen
Worten: Wir müssen vor allem zu Bürgern werden, wir müssen zuallererst darüber zu urteilen lernen, welche Gesellschaft wir haben wollen. Wir sind eine menschenbildende Gesellschaft, bevor wir eine Wissens- und Informationsgesellschaft sind.
Drei große vor uns liegende Probleme, müssen den Erwachsenen bewusst sein, damit die Gesellschaft die Schule will, die sie braucht. Erstens: Das Generationen-Verhältnis. Es folgt nicht mehr dem Schema von sexueller, politischer, ökonomischer Rivalität, nicht mehr nach dem Schema Selbstentfaltung versus autoritäre Autorität oder dem Muster Teilhabe versus
Ausschluss; es steht vielmehr unter Zeichen wie „Tschernobyl“, „Klimaerwärmung“ oder „11. September“, deren Botschaft ist: Die Erwachsenen haben ihre Welt nicht mehr im Griff. Sie können den Jungen nicht glaubhaft sagen, wo es langgeht und was man unbedingt gelernt haben muss. Sie müssen vorleben, wie man ohne Sicherheit zurechtkommt und gleichwohl Verantwortung übernimmt, dass man umzulernen bereit sein muss und gleichwohl seinen Prinzipien treu bleiben, dass es Vermeidung und Bescheidung zu üben gilt, wo die Risiken zu groß sind. Wir brauchen furchtlos ehrliche, ausdauernd an den Schwierigkeiten und Chancen unserer Zivilisation arbeitende Bürger.
Zweitens: Die Flucht aus der Aufklärung. Dies ist eine Flucht aus der Überforderung der Urteilskraft, aus der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, aus der Massenhaftigkeit und Geschwindigkeit aller Vorgänge, eine Flucht in die okkulten Lehren, die absoluten Gemeinschaften, die endgültigen Wahrheiten, die Internet-Magie, die Virtualität und Diskontinuität. Wir brauchen nachdenkende, fragende, sich besinnende, ihre Verrichtungen bewusst verlangsamende, zur Anstrengung des Verstehens entschlossene Bürger.
Drittens: Der erodierende Gemeinsinn. Steuerhinterziehung, Spenden skandale, der empörende Abstand von ganz reich und ganz arm, die mittellose öffentliche Hand, der Ausverkauf der öffentlichen Aufgaben an private Dienstleister – das alles ist nicht unvermeidbar, kein hinzunehmender Nebeneffekt des Wettbewerbs. Wir brauchen politische, aufmerksame, am Schicksal ihrer Mitmenschen interessierte Bürger, nicht nur gut vermittelbare „Absolventen“, interessenbewusste Arbeitnehmer und Arbeitgeber, treue Beamte, freudige Konsumenten, obligatorisch Krankenversicherte, emsige Empfänger von Sozialleistungen.
Wenn wir ohne ein Bewusstsein von Anforderungen dieser Art – es sind nur Beispiele! – nach „Wegen aus der Bildungsmisere“ suchen, werden wir zu keiner Einigung kommen. Wir werden dem Trägheitsgesetz folgen und weiterhin die Schule wollen, die die jungen Menschen in die ohnedies herrschenden Verhältnisse, in die ohnedies vor sich gehenden Entwicklungen einpasst.
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