DIE ZEIT
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Wirtschaft 20/2002
Das Märchen vom Aufstieg (1)
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Die Deutschen glauben, dass es jeder nach oben schaffen kann. Falsch: Von den eigenen Bürgern unbemerkt, ist das Land zur Klassengesellschaft mutiert. Der Sozialstaat muss sich auf die Armen konzentrieren
von Elisabeth Niejahr
Gerhard Schröder und Joschka Fischer, der Bundeskanzler und sein Vize, hatten keinen leichten Start ins Erwachsenenleben. Als Kinder gehörten sie nicht zu den Privilegierten, inzwischen haben sie es bis ganz nach oben geschafft. Nun ziehen sie in einen Wahlkampf, in dem viel von Schulen und Universitäten, von Kindergärten und von Chancengleichheit die Rede ist. "Bildung ist die neue soziale Frage", sagt der Kanzler in seinen Wahl- kampfreden. Manchmal erwähnt er dabei seine eigene Biografie. Schröder rührt damit an ein Thema, das für den Mainzer Soziologen Stefan Hradil ein "blinder Fleck" im Bewusstsein der Deutschen ist - ein Missstand, der irgendwie aus dem Blickfeld geriet. Zwar zeigen Statistiken, dass Deutschland, trotz seiner gigantischen Umverteilungs- instanzen, kein Land mit ausgeprägter Chancengleichheit ist. "Dass sich unsere Gesellschaft mit dem Prädikat ,Leistungsgesellschaft' schmückt, gehört zu ihren großen Selbsttäuschungen", sagt der Bonner Wirtschafts- forscher Meinhard Miegel. Doch die geringe soziale Mobilität wird selten wahrgenommen - und noch seltener bekämpft. Man sieht sie nicht. Nicht auf dem Gehaltszettel, nicht in der Arbeitslosenstatistik, nicht im Verteilungstableau. Und zeigen nicht Schröder oder Fischer, dass alles in Ordnung ist?
In den fünfziger Jahren erfand der Soziologe Helmut Schelsky den Begriff von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". An diesem Mythos wird bis heute kaum gerüttelt. Den Deutschen gefällt die Vorstellung, dass vor allem die eigene Leistung über das Fortkommen entscheidet und der Tüchtige nach oben durchmarschieren kann. In der Nachkriegszeit mag das auch so gewesen sein, als viele bei null beginnen mussten und mehr als zehn Millionen Flüchtlinge das soziale Gefüge durcheinander brachten. Und so war es vielleicht auch in den Siebzigern, als Aufschwung und Bildungsinvestitionen vielen Deutschen die Türen öffneten. "Fahrstuhleffekt" nannte das der Münchner Soziologe Ulrich Beck: Die verschiedenen Gesellschaftsschichten wurden gemein- sam und gleichzeitig nach oben befördert.
Inzwischen haben sich die Fakten geändert, nicht aber das Selbstver- ständnis. Ist der Zugang zu einem Studium nicht etwa leichter als in fast allen anderen Ländern der westlichen Industriegesellschaften? In Großbritannien besuchen Kinder der Upper Class erst Eton und dann Oxford - in Deutschland findet man sie vielerorts. Auch Eliteunis wie die Grandes Écoles in Frankreich oder Harvard, Princeton, Stanford in den Vereinigten Staaten kennt man in Deutschland nicht. Kann hier nicht jeder alles werden, wenn er begabt ist - in der Wirtschaft, im öffentlichen Dienst, in der Politik?
Der oberflächliche Eindruck ist: ja. Unzählige Untersuchungen, Statistiken und Experten sagen: nein. Zuletzt zeigte die Schulstudie Pisa, dass bei einem Vergleich von 32 Ländern der Abstand zwischen der Leistung von Schülern aus privilegierten Familien und solchen aus unteren sozialen Schichten nirgends so groß war wie in Deutschland: Platz 32. Die Vereinigten Staaten landeten auf Platz 8.
Eine Überraschung? Schon Ende der neunziger Jahre gelangte eine Untersuchung der Berliner Humboldt-Universität zur selben Schluss- folgerung. Mehr als 13 000 Hamburger Kinder waren dafür unmittelbar nach dem Übergang in die weiterführende Schule beobachtet worden.
Ergebnis: Je höher die Ausbildung der Eltern war, desto besser schnitten die Kinder ab - auch wenn sie selbst keine besonders guten Leistungen vorzuweisen hatten. Dazu trugen auch die Vor- urteile der Lehrer bei, die Kinder aus weniger gebildeten Eltern- häusern unabhängig von Testergebnissen einfach schlechter beurteilten. "Dass die Lernvoraussetzungen nicht gleich sind, haben wir erwartet - aber dass gleiche Leistung nicht einmal gleich bewertet wird, ist ein Unding", gab einer der beteiligten Professoren damals erschrocken zu Protokoll.
"Deutschland ist Weltmeister in der sozialen Exklusion", sagt Hans Konrad Koch, Schulexperte im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Der Ökonom Miegel warnt vor "einer gigantischen Verschwendung von Humankapital" - also der Ressource, die einer Wissensgesellschaft das Überleben sichert. Viel spricht dafür, dass die Ungleichheit der Chancen zunehmen wird:
- Erbschaften aus privaten Vermögen werden sich bis zum Jahr 2020 mehr als verdoppeln - und höchst unterschiedlich verteilt sein. Wer nichts erbt, wird den materiellen Vorsprung von Kindern aus begütertem Elternhaus künftig schwerer durch eigene Leistung aufholen können.
- Hinzu kommt ein Phänomen, das der Bamberger Soziologe Andreas Klocke "sozialhomogene Heiratsmuster" nennt: Reich heiratet reich, Bildungsbürger ehelichen Bildungsbürger. Auch dadurch wird Ungleich- heit potenziert.
- Die Startchancen von Kindern klaffen auseinander, eine steigende Zahl von ihnen wächst in relativer Armut auf. In Großstädten wie Berlin zahlen die Sozialämter bereits für jedes sechste Kind. Soziologen haben einen Namen dafür: "Infantilisierung der Armut". Betroffen ist vor allem der Nachwuchs von Alleinerziehenden.
- Lehrer und Professoren vergeben immer mehr gute und sehr gute Noten. Prüfungsergebnisse verlieren dadurch ihre Aussagekraft, und das schadet in erster Linie den Schülern und Studenten aus sozial benachteiligten Milieus. Sie können ihre schlechteren Startbedingungen schwerer durch zählbare Qualifikationen ausgleichen, stattdessen werden Umgangsformen und selbstbewusstes Auftreten immer wichtiger. "Der Trend zur Rekrutierung der Wirtschaftseliten aus der Schicht des gehobenen Bürgertums wird sich verstärken", warnt der Darmstädter Soziologieprofessor Klaus Hartmann. "Gutes Benehmen kann man zwar erlernen, aber nicht unbedingt die Selbst- verständlichkeit dabei."
Hartmann hat anhand der Karrieren von 6500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Ökonomen der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 nachgewiesen, welch eine enorme Rolle die soziale Herkunft für Karrieremuster in der Privatwirtschaft spielt. Danach beherrscht das gehobene Bürgertum die Chefetagen. Kinder von leitenden Angestellten, höheren Beamten, studierten Freiberuflern und Unternehmern mit mehr als zehn Beschäftigten machten demnach etwa doppelt so häufig Karriere wie Kinder aus einfacheren Verhältnissen - trotz formal gleicher Qualifikationen. In einer weiteren Studie erhärtete sich das Ergebnis: Die Vorstandsvorsitzenden der 100 größten deutschen Unternehmen rekrutieren sich sogar zu knapp 90 Prozent aus dieser Schicht. Je größer ein Unternehmen, umso stärker schlägt sich die soziale Herkunft als Karrierefaktor nieder.
Beispiele gibt es zuhauf. So kommt Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff ebenso aus einer Unternehmerfamilie wie der Post-Vorstandsvorsitzende Klaus Zumwinkel oder der frühere VW-Chef Ferdinand Piëch, der aus der Dynastie von Ferdinand Porsche stammt. Typisch ist das Familien- netzwerk von BASF-Finanzvorstand Max Dietrich Kley: Der Sohn eines Siemens-Finanzvorstands hat drei Brüder, die ebenfalls Top- manager oder Unternehmer sind. Einer davon ist der Lufthansa- Finanzvorstand Karl-Ludwig Kley. Aufsteiger wie der neue Bayer- Vorstandsvorsitzende Werner Wenning, der mit 19 eine Lehre als Industriekaufmann beim Leverkusener Chemiekonzern begann, sind die Ausnahme. Die größten Chancen haben sie als Sanierer, die unangenehme Aufräumarbeiten erledigen, wie etwa MG-Technologies- Chef Kajo Neukirchen, dessen Vater Töpfer war.
(Fortsetzung)
Herkunft als Aufstiegsbremse - zumindest die Gewerkschaften müsste das brennend interessieren.
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