DIE ZEIT
Wirtschaft 20/2002
Das Märchen vom Aufstieg (2)
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(Fortsetzung)

Herkunft als Aufstiegsbremse - zumindest die Gewerkschaften müsste das brennend interessieren. Doch das Thema Chancengleichheit hat auch bei ihnen keine Konjunktur. Ob man beim Deutschen Gewerkschaftsbund nachfragt, bei Einzelgewerkschaften wie der IG Metall und ver.di oder bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: Studien, Stellungnahmen, Debatten zu den Aussichten von Kindern sozial benachteiligter Familien - nahezu Fehlanzeige.

"Viele unserer Bildungsexperten haben sich nach der Aufbruchstimmung der siebziger Jahre in ihre Fachgebiete zurückgezogen und in Detail- debatten aufgerieben, etwa über die Zukunft der Gesamtschulen", gibt Klaus Lang zu, einer der einflussreichen Strategen der IG Metall.

So bleibt es Außenseitern überlassen, die alten sozialen Grundsatzfragen neu zu formulieren. "Eigentlich müsste soziale Ungleichheit ein großes Thema unserer Zeit sein", wundert sich der Bremer Historiker Paul Nolte, der für ein "neues Klassen-Bewusstsein" plädiert, das er "nicht als Aufruf zu revolutionärem Handeln, sondern als Projekt bürgerlicher Aufklärung" verstanden wissen will: "Es heißt nur, dass wir ein geschärftes Bewusstsein dafür brauchen, in einer Welt zu leben, die durch soziale Ungleichheit, durch Schichtung und Klassendifferenzen geprägt wird." Nolte findet vielerlei Indizien für die alte Klassengesellschaft in neuem Gewand - weniger in der Welt der Arbeit als in Konsum und Alltag.

Früher habe es viele einheitliche Angebote für alle gegeben: beim Schulunterricht, bei den Fernsehprogrammen, sogar bei Lebensmitteln. Inzwischen habe sich mit RTL und Sat.1 ein "Unterschichtsfernsehen" durchgesetzt, während sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie Arte etablierten. In bürgerlichen Kreisen gehöre es dazu, Kinder auf teure Privatschulen zu schicken; und auch bei etlichen Gebrauchsgütern zerfalle das Angebot in teuer und billig. "Man kann Mineralwasser für 30 Pfennig kaufen oder ab einer Mark aufwärts", sagt Nolte.

Der Historiker bietet mehrere Erklärungen für das geringe Interesse am "unappetitlichen Thema" mangelnder Chancengleichheit an - etwa die soziale Kluft, die sich nach der deutschen Einheit zwischen Ost und West aufgetan habe, die aber mit herkömmlichen Klassen- unterschieden nichts gemein habe. Zudem sei Gesellschaftskritik heute unter linken wie unter liberalen Intellektuellen passé.

Nicht so in den anderen westlichen Industrieländern: In Großbritannien, Frankreich oder den Vereingten Staaten war und ist die soziale Durch- lässigkeit ein großes Thema. Die Amerikaner mühen sich mit Quoten,
Förder- und Schutzregeln für Minderheiten ab. Die Briten sind bis heute besessen von den Tücken ihres Klassensystems. Die Franzosen fühlen sich ihren republikanischen Traditionen verpflichtet - und reden offen über Klassenzugehörigkeit.

Wenn die Deutschen über soziale Gerechtigkeit streiten, geht es meistens um eine Gleichheit der Einkommen, nicht um eine Gleichheit von Chancen. Ein geringerer Rentenanstieg? Nein danke. Maßvolle Tarifabschlüsse? Um Gottes willen! Kürzere Bezugszeiten beim Arbeitslosengeld? Neoliberales Teufelszeug! Doch ohne eine neue Verknüpfung von Sozial- und Bildungs politik wird es nicht gehen. Je weiter Deutschland zurückfällt im Wettbewerb der Bildungssysteme, desto weniger Geld wird mittelfristig für Sozialleistungen übrig sein. Ohne Chancengleichheit kann man das Ziel der Einkommensgleich- heit auf Dauer vergessen. "Bildungspolitik ist die einzige Möglichkeit, Einkommen umzuverteilen und gleichzeitig das Wachstum zu fördern" sagt der amerikanische Wirtschaftsprofessor Paul Romer.

Wer hingegen Schulen und Kindergärten vernachlässigt, trägt dazu bei, dass in den Großstädten etwas entsteht, was die Briten schlicht underclass nennen. Bildungspolitiker brauchen Geld für besser qualifizierte Kindergärtnerinnen, für Ausländer-Sprachunterricht, für Ganztagsschulen. Legt man Zahlen der OECD zugrunde, so geben die Deutschen 4,4 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 5,0 Prozent, die Quote der Schweden bei 6,6 Prozent. Wollten die Deutschen den Schweden darin nacheifern, so müssten nach OECD-Berechnungen pro Jahr 40 Milliarden Mark mehr für Schule und Studium ausgegeben werden. Solche Beträge sind in Zeiten sanierungsbedürftiger öffentlicher Haushalte ohne Abstriche in den Sozialetats nicht einmal annähernd zu erreichen.

Mehr "Klassenbewusstsein" nach französischem oder britischem Vorbild - das könnte auch helfen, an den richtigen Stellen zu kürzen und staatliche Unterstützung künftig stärker denen zukommen zu lassen, die sie wirklich dringend brauchen. Denn nicht nur die Bildungspolitik, auch viele Sozialgesetze nützen oft vor allem der Mittelschicht.

- Beispiel Rentner: Erst langsam hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Gleichung "Alt gleich arm" nicht mehr zeitgemäß ist. Dennoch nützen unterschiedlichste "Seniorenrabatte" bei öffentlichen Einrichtungen nach wie vor im Extremfall auch dem 90-jährigen Milliardär. Auf absehbare Zeit wird das soziale Gefälle innerhalb der Generationen größer bleiben als das zwischen den Generationen.

- Beispiel Familien: Die Politiker wären gut beraten, weniger zwischen Kinderreichen und Singles und stärker zwischen armen und reichen Familien zu unterscheiden. Die Ganztagsbetreuung für die Kinder von Alleinerziehenden würde dann beispielsweise in der Werteskala der Politiker weiter oben stehen als der Erhalt des so genannten Baukindergelds, das Familien mit Einkommen bis 50 000 Euro zusteht.

- Beispiel Behinderte: Dort finden sich ähnliche Ungereimtheiten. So ist die Bahnermäßigung für den wohlhabenden Gehbehinderten eher verzichtbar als die bessere Bezahlung für Pflegekräfte von Härtefällen.

Ein neues Verständnis von Gerechtigkeit kann womöglich sogar helfen, Mehrheiten zu sichern. Denn gegen Sozialneid ist mit Wahlgeschenken auf Dauer sowieso nichts auszurichten. Das ahnte auch schon der französische Denker Alexis de Tocqueville: "So demokratisch die sozialen Verhältnisse und die politische Verfassung eines Volkes auch sein mögen, man kann damit rechnen, dass jeder Bürger in seiner Nähe stets einige Punkte finden wird, die ihn überragen, und man kann voraussehen, dass er seine Blicke hartnäckig einzig nach dieser Seite richten wird", formulierte er 1835. Deshalb werde der Wunsch nach Gleichheit "umso unersättlicher, je größer die Gleichheit ist".

Falls die Politik diese Einsicht nicht überzeugt, schaffen es mittelfristig vielleicht die Zwänge der Ökonomie. "Die großen Bildungsreformen der siebziger Jahre kamen zustande, weil es eine Koalition von Idealisten und Pragmatikern gab - die gesellschaftliche Debatte über Chancengleichheit fiel zusammen mit dem wachsenden Fachkräftebedarf der Wirtschaft", erinnert sich der Hamburger Bildungsforscher und Soziologieprofessor Harry Friebel. Schon bald werde die Alterung der Gesellschaft den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften schnell steigen lassen. "So gesehen, ist es jetzt wieder so weit."





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