Auch aus den SN vom 14 05 02
http://www.salzburg.com/sn/02/05/14/artikel/265587.html
Bis hin zur Gottähnlichkeit
Der Bildungsbegriff hat sich geändert. Heute muss vor allem gelernt werden, das Beste aus einem Überangebot zu machen und das Chaos zu strukturieren.
WERNER THUSWALDNER
Der Brockhaus von 1827 sah in der Bildung etwas ganz und gar Wunderbares. Mit ihr könne man über den animalischen Status hinausgelangen. Sie lasse den Menschen aus dem "harten Dienst der Naturnothwendigkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes" fortschreiten. Weiter heißt es: "Bildung in diesem Sinne ist uns daher die durch zweckmäßigen Unterricht und geregelte Selbstthätigkeit zu bewerkstelligende, harmonische Entwicklung der gesammten Menschenkraft zur Gottähnlichkeit."
Für Frauen allerdings kann das nicht gelten, schreibt das "Damen-Conversationslexikon" von 1835. "Bildet sich das Mädchen für den Beruf, so ist das für die Ehe, oder, noch eigentlicher, für den bestimmten Gatten." Zu viel Bildung für das Weib könnte womöglich sogar schaden: "Es kommt nicht darauf an, daß die Bildung der Gattin eine ausgedehnte sei, sondern vielmehr darauf, wie sie ihre Ausbildung der ihres Gatten anzupassen verstehe, damit sich jede Schärfe seines Geistes glätte am Polirsteine ihres
Gemüthes; sonst ist ihre Erziehung nur eine Nebenstimme. Kenntniß des Mannes ist das wichtigste Gesetz der Ehe für Frauen . . . Im Gefühle liegt der Gesammtwerth des Weibes; gäbe es eine allgemeine Bildung der Gattinnen, so wäre es die des Gefühls."
1936 ist Bildung etwas ganz anderes, folgt man den Ausführungen im Meyer-Lexikon. Bildung arbeite demnach an der "Herausbildung des rassisch einwandfrei geborenen deutschen Menschen zur vollentwickelten, willensstarken und charakterfesten Persönlichkeit im Rahmen der Volksgemeinschaft".
Zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit
Heute ist das Verständnis von Bildung ein wenig anders. Ist Bildung nur die Anhäufung von möglichst vielem Wissen? Die Betonung liegt in unserer Zeit auf praktisch anwendbaren Kenntnissen. Alles, was nicht dazu dient, wird ganz gerne als Ballast angesehen. Aus den Lehrplänen der Schulen sollte es womöglich verschwinden.
Sollte in die Ausbildung von Mädchen investiert werden? Sie heiraten später ohnehin und sind dann, wenn sie mit Kindern und einem Haushalt zurechtkommen sollen, mit ihrer Bildung unglücklich, weil sie ständig an verpasste Möglichkeiten denken müssen. Überlegungen dieser Art stammen nicht aus einem Lexikon vergangener Jahrhunderte, sie werden da und dort auch heute noch angestellt. Auf der anderen Seite wird nicht angezweifelt, dass Bildung eine Voraussetzung für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist. Das ist eine Bildung, die nicht auf einen unmittelbaren Nutzen ausgerichtet ist.
In der abendländischen Bildungsgesschichte spielte der Gedanke eine wichtige Rolle, dass der Mensch erzogen, jedenfalls verbessert werden müsse. Schiller etwa traute in diesem Zusammenhang dem Theater sehr viel zu. Durch die bewegende Darstellung der Vorgänge auf der Bühne, das Kennenlernen denkwürdiger Schicksale und der damit verbundenen Erschütterung des Publikums müsse es zwangsläufig zu einer Veredelung des Menschen kommen. Alles, was wir gelernt haben, als "humanistische Bildung" zu bezeichnen, stand in diesem Dienst. Literatur, Musik, bildende Kunst, Geschichte, die Kenntnis des Lateinischen als Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit, gehörten zum Kanon abendländischer Bildung.
Er musste erweitert werden, als die Naturwissenschaften an Bedeutung zunahmen. Gelegentlich wurden und werden die "musischen Fächer" auf der einen Seite und die Naturwissenschaften auf der anderen sogar als Kontrahenten gegeneinander ausgespielt. Das Bildungssystem hat diesen Gegensatz forciert. Im Extrem kann dies zum amusischen Techniker auf der einen Seite und zum musischen Menschen ohne Bodenhaftung auf der anderen Seite führen.
Je rasanter das Wissen zunimmt, desto mehr wächst die Ratlosigkeit der Schulen, was, wie und wie viel davon sie jungen Menschen vermitteln sollen. Die Elterngeneration stellt mit Entsetzen fest, wie genügsam die Schulen geworden sind, wie spärlich das Wissen ist und wie schnell Desorientierung überhand nimmt.
Ein Beispiel dafür ist die Überschätzung des Bildes. Ganz Kluge verkündeten, dass das Zeitalter der Schrift zu Ende sei und dass wir uns künftig auf die Information durch Bilder werden verlassen können. Eine Zunahme des Analphabetismus war die Folge. Und es zeigt sich, dass auch zur Nutzung der neuen Medien, des Internets etwa, Lesefähigkeit eine wichtige Voraussetzung ist.
Was sich zu früher geändert hat, ist der leichtere Zugang zur Bildung in zweifacher Hinsicht. Zunächst politisch: In Österreich wurden in den siebziger Jahren Bildungsschranken niedergerissen. Aber auch praktisch: Ohne Schwierigkeiten lässt sich jedes Wissensgebiet durch Bücher und - noch einfacher - durch die elektronischen Medien erschließen. Mit dieser enormen Erleichterung sollte es, so möchte man meinen, zu einem Bildungsschub ohnegleichen gekommen sein. Aber davon ist erstaunlicherweise weit und breit nichts zu merken. Informationen stehen in Hülle und Fülle zur Verfügung, sie wirken von verschiedenen Seiten auf den Einzelnen ein. Hat aber jemand nicht gelernt, damit umzugehen, wird er hoffnungslos erschlagen werden.
Den Umgang lernen, das heißt: Das Wichtigste ist die Fähigkeit, unterscheiden zu können zwischen Medienangeboten, die einzig dazu da sind, die Zeit mehr oder weniger angenehm vergehen zu lassen, und anderen, die verwertbar sind. Um sie verwerten zu können, muss ich im Stande sein, sie einzuschätzen als wichtig oder weniger wichtig.
Der richtige Umgang mit dem Überangebot
Und ich muss mir mein eigenes Bildungssystem zugelegt haben, einen Raster gleichsam, wo das Neue, das ich erfahre, "andocken" kann. Das ist die Voraussetzung für ein Denken in Zusammenhängen. Nur so ist es möglich, mit der Überflutung durch die Bildungs- und Informationsmedien zurechtzukommen, nur so kann das Chaos strukturiert werden.
Die Frage lautet: Wie mache ich von diesen Angeboten am besten Gebrauch, wie ziehe ich aus ihnen für mich den besten Nutzen, ohne dass ich mich von ihnen überwältigen lasse. Darauf müssen Schulen hinarbeiten und darauf, den erwähnten Raster zu ziehen, um eine Struktur zu haben, die hilft, all das Neue - von dem vieles sich nur so gebärdet, als wäre es brandneu - zu bewerten. Mit der Maßnahme, jedem Schüler, jeder Schülerin einen Computer zu geben, ist es nicht getan, um zur eingangs erwähnten "Gottähnlichkeit" vorzustoßen.
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