Frankfurter Rundschau
Eine andere Schule
Nach Erfurt gilt mehr denn je: Die Schule muss versuchen, die zähe Mixtur aus Nicht-hinsehen-Wollen und Nicht-erkennen-Können aufzubrechen - das sattsam bekannte, jede Veränderung abwehrende Argument des "Überlastet-Seins" zieht nicht mehr
Von Jörg Feuck
Was lernt die Institution Schule aus dem Amoklauf von Erfurt? Worüber muss sie sich klar werden? Nimmt sie diese Debatte an, wird sich erweisen, ob Abwehr siegt oder mehr Offenheit die Oberhand gewinnt. Ob die Gesellschaft hinnimmt, dass Schule sich eines Stücks Erziehungsaufgabe entledigen und "nicht der Reparaturbetrieb für soziale Versäumnisse und Auswüchse" sein will. Oder ob sich die Gesellschaft darauf verständigt, dass Schule eine anspruchsvolle Verantwortung, ein pädagogisches Selbstverständnis des "Sich-Kümmerns" haben muss. Es gibt Anzeichen dafür, dass genau dies im Fall des Erfurter Schülers Robert Steinhäuser grob vernachlässigt worden ist. Mehr noch: Im Getriebe des routinierten Schulalltags hat nicht ein Rädchen ins andere gegriffen. So fiel ein junger Mann als gescheitert durch die Maschen des Bildungssystems, die Eltern blieben ahnungslos. Es sieht so aus, als hätten Schule und Schulaufsicht wie verknöcherte Behörden gehandelt: nach dem halben Verweis nicht mehr zuständig.
Der Direktor der Akademie für Lehrerfortbildung im bayerischen Dillingen, der sich derzeit vor Seminar-Nachfragen kaum retten kann, hat den Kern der Debatte berührt, ohne das Schlagwort Pisa in den Mund zu nehmen: So genannte Problemschüler werden allzu gern abgeschoben, zu oft werden Schüler im Falle von Schulverweisen oder der Ankündigung, dass die Versetzung gefährdet ist, allein gelassen. Gerade sie müssten von den Lehrern intensiv betreut werden. Der Fortbildungsexperte sieht zu Recht dringenden Nachholbedarf: Pädagogen muss bewusst werden, welche Tragweite ihre Entscheidungen im Einzelfall haben können. Auch die Bundeselternratsvorsitzende mahnt an, "Schulversagern" eine Perspektive zu bieten, Mediziner, Psychologen, Sozialarbeiter in der Schule einzusetzen und mit Jugendhilfe-Netzen "draußen" zu kooperieren. Es wäre zu billig, diese Hinweise der Praktiker als watteweiche Kuschelpädagogik oder 68er-Geschwätz zu verhöhnen.
Bisher funktioniert das gegliederte deutsche Schulsystem nach dem Prinzip: Wer in eine Schulform nicht passt, muss gehen. In diesem Kasten-Denken werden die Referendare früh geschult. So werden aus vielen Kindern Sitzenbleiber, Störer, Abweichler, Auffällige. Sie werden durchgereicht oder stürzen - verhängnisvolles Beispiel Erfurt - ohne jeglichen Abschluss aus der Schullaufbahn ab. Sie schwänzen die Schule, ohne dass Lehrer das genau registrieren und öffentlich machen (wollen), weil ein paar Tage mehr "Ruhe" in der Klasse ja auch wohltuend sind. Um es klarzustellen: Es gibt keinen Grund, die Verhältnisse auf Schulhöfen und in Klassenzimmern schwarz zu malen. Umfragen zufolge äußern sich die Jugendlichen überwiegend positiv über das Schulklima: Sie gehen zumeist gern zur Schule und fühlen sich dort einigermaßen gut aufgehoben.
Trotzdem muss sich Schule wandeln und entscheiden, welche Kultur sie pflegen, welche Regeln und Grenzen sie setzen will, was sie von Schülern und Eltern erwartet und was sie ihnen verlässlich bietet. Erfurt hat den Druck erhöht. Diese Selbstvergewisserung von Schule ist wichtig, weil sie so die ihr innewohnenden Risikofaktoren für Gewalt beeinflussen kann: Schüler haben ein feines Gespür, ob Lehrer sie ungerecht behandeln, nach undurchschaubaren Kriterien bewerten, im täglichen Umgang desinteressiert oder unaufrichtig sind. Wenn Lehrer jene Schüler, die formalen Leistungsansprüchen nicht genügen, als Faulenzer oder böswillige Störenfriede etikettieren, dürfen sie sich nicht über die Art der Verarbeitung von Misserfolgen wundern: Indem Jugendliche Schulen als Zwangseinrichtungen voller Willkür begreifen, dagegen ankämpfen, sich verweigern oder den Unterricht aufmischen, wofür sie dann mit miserablen Zensuren abgestraft werden.
Dass zu hoher Leistungsdruck, eine restriktive Erziehung und rigides Diszplinieren Aggressionen begünstigen können, unterstreichen einschlägige Studien. Wenn Schule und einzelne Lehrer sich nicht anstrengen zu fördern, ergebe sich eine wichtige "Schlüsselvariable für das Aufkommen eines hausgemachten Gewaltpotenzials", fanden Wissenschaftler heraus.
Was also muss Schule lernen? Sie muss versuchen, die zähe Mixtur aus Nicht-hinsehen-Wollen und Nicht-erkennen-Können aufzubrechen: Dass Lehrer verschlossene Kinder übersehen, um der eigenen Entlastung willen Aufmüpfige aus der Klasse herausfallen lassen, schwach sind im Einschätzen - das alles ruft nach einem Wandel in Ausbildung und Berufshaltung. Eltern haben es in der Hand, diesen Prozess zu beschleunigen. Indem sie darauf pochen, dass das Kontaktnetz der Schule zu ihnen professionalisiert wird. Indem sie sich bei "Blauen Briefen" oder Bitten zum Krisengespräch nicht taub stellen. Indem sie als Recht einfordern, auch dann über die Schulkarriere ihrer Kinder informiert zu werden, wenn diese volljährig sind. Das sattsam bekannte, jede Veränderung abwehrende Argument des "Überlastet-Seins" - es zieht nicht mehr.
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