Frankfurter Rundschau 16 05 02 (gesendet 21h25)

Provokationen nach Erfurt

Plötzlich fühlen sich einige Schüler besonders stark und drohen ihren Lehrern

Von Ingrid Müller-Münch

Was, Sie trauen sich jetzt noch, nach Erfurt, mir eine Klassenkonferenz anzudrohen?" Das schleuderte neulich ein 15-jähriger Schüler einer Lehrerin an einem rheinischen Gymnasium entgegen. "Na, Frau H., wie ist das denn jetzt für Sie so?" provozierte wenige Tage nach dem Amoklauf des Erfurter Schülers ein Mädchen geradezu triumphierend ihre Klassenlehrerin. In der Gesamtschule einer nordrhein-westfälischen Großstadt hatten Unbekannte zu diesem Zeitpunkt über die stets am Schwarzen Brett aushängenden Lehrerporträts geschmiert: "Ihr seid auch noch alle dran!"

Als vor einigen Tagen ein Lehrer eine Schülerin während des Unterrichts bat, ihr Kaugummi aus dem Mund zu nehmen, legte das Mädchen kurzerhand einen Finger an die eigene Stirn, so, als wolle sie schießen, und meinte: "Wenn Sie weiter darauf bestehen, dann sind Sie tot." Ein anderer 15-jähriger Schüler erschreckte seine Lehrerin in unmissverständlicher Anspielung auf Erfurt mit der Bemerkung: "Haben Sie jetzt nicht ein bisschen Angst vor mir?" Ein Junge drohte seiner Lehrerin: Wenn sie nicht erledige, was er von ihr wolle, "ist morgen Ihr Auto platt".

Hässliche Randnotizen nach Erfurt. Vereinzelte Jugendliche, die neu austesten, wie weit sie gehen können. Lehrer, denen Angst eingejagt wird. Gewaltfantasien, die mancherorts nicht nur angedroht, sondern auch in die Tat umgesetzt werden. Wie eine Woche nach Erfurt durch einen 17-Jährigen, der die Direktorin des Köln-Mülheimer Gymnasiums während eines Streitgesprächs um seine Versetzung mit einer Feuerzeugpistole bedrohte. Oder wie in Essen, wo ein 18-jähriger nach einem Konflikt mit der Lehrerin im Chemieraum des Viktoria-Gymnasiums den Gashahn aufdrehte und dadurch beinahe die Schule in die Luft sprengte.

Eine veränderte Situation. Gesprächsthema im Lehrerzimmer. Man berät sich. "Seit dem Amoklauf von Erfurt hat sich hundertprozentig was geändert", sagt eine Gesamtschullehrerin aus dem Rheinland, die seit dreißig Jahren Biologie und Deutsch unterrichtet. Wie sie wollen fast alle Kollegen anonym bleiben. Aber über Ängste und Erfahrungen reden wollen sie schon. Auch wenn der einhellige Tenor aller der ist: Erfurt war ein Einzelfall, wird sich an unserer Schule nicht wiederholen. "Dennoch", sagt eine erfahrene Pädagogin jenseits der 50: Sie sei seit Erfurt im Umgang mit den Schülern vorsichtiger geworden. Früher, da sei sie bei einem Streit mit ihren Schülern "in den Ring gestiegen". Heute würde sie dies nur noch mit Rückendeckung von Eltern und Rektor tun.

Harald Junge, Rektor am Kölner Humboldt-Gymnasium, hat mit seinen Kollegen und Kolleginnen nach Erfurt erneut so genannte "Problemfälle" an der Schule unter die Lupe genommen. Denn eines ist klar: An einer Innenstadtschule wie dem Humboldt-Gymnasium, "mit Familienumbrüchen, mit Trennungsphasen, die die Kinder durchlaufen, Vertrauens- und Bindungsverlust", da brodelt es schon mal, weiß Junge. Einziges Gegenmittel, da ist sich Junge sicher: Respekt im Umgang mit seinen Jugendlichen. Denn "wo junge Menschen öffentlich erniedrigt werden, wo sich Spottlust breit macht, wo die intellektuelle Überlegenheit der Erwachsenen sich in Gemeinheit ummünzt, sind solche Stellen, an denen Hass, Wut und unbändiger Zorn entstehen können".

An anderen Schulen bedauern Kollegen den Verlust einer bis dahin optimistischen Haltung. So ging eine Gesamtschullehrerin bislang davon aus, das Gerede um Gewalt an Schulen sei "Stimmungsmache". Für sie ist diese Überzeugung seit Erfurt ins Wanken geraten. Sie glaubt "zwar noch immer nicht, dass jeder dritte Schüler bewaffnet ist. Aber dennoch bin ich", so sagt sie, "was dies angeht, aus einer Art Dornröschenschlaf erwacht."

Seit ihr nach einem Gespräch mit ihrer Klasse klar wurde, wie problemlos sich die Jugendlichen offenbar Messer und Waffen besorgen können, glaubt sie, "wir sind sehr naiv gewesen". Für eine ihrer Kolleginnen liegt das Problem eher darin, dass Lehrer so unerfahren im Umgang mit Konflikten sind. Wie in einem Mobbing-Fall zwischen Jugendlichen, den sie kürzlich in einer anderen Klasse mitbekam. Da hatte der Lehrer einfach gesagt, das wachse sich aus. Und die Sache auf sich beruhen lassen, statt sie zu klären. "Es steht zwar fest, dass der Schüler in Englisch die indirekte Rede bis zur neunten Klasse können muss. Aber was er bis dahin an sozialem Verhalten gelernt haben muss, ist viel zu wenig definiert", bedauert diese Lehrerin.

Da vor gut zwei Jahren an der Köln-Porzer Gesamtschule ein Schüler mit einer Gaspistole auf seinen Lehrer schoss und ihn verletzte, hat Rektor Mathias Kuhlmann ein besonderes Interesse an den Auswirkungen von Erfurt. "Wie wäre wohl die offizielle Diskussion verlaufen, wenn der Erfurter Täter ein Türke, die Schule eine Gesamtschule gewesen wäre", sagt er leicht verbittert. Denn damals, nach dem Vorfall in Porz, liefen Journalisten durch den sanierungsbedürftigen Stadtteil und waren sich einig: Klar, das dies hier passierte, hier wird ja auch mit Drogen gedealt, hier ist eine Art sozialer Brennpunkt.

"Damals wurde bei uns sofort die Milieutheorie vertreten", sagt Kuhlmann. "Jetzt sieht es anders aus. Der Schütze von Erfurt war ein Deutscher, kam aus einem traditionsbewussten Gymnasium und war nicht erkennbar gewaltbereit", beschreibt Kuhlmann die neue Ausgangslage. Was die Sache für ihn nicht leichter mache. Das Augenmerk sei nunmehr nicht mehr nur auf jene gerichtet, "die erkennbar Signale aussenden, sondern auch auf die Fügsamen, die Angepassten". Also jeder Schüler, jede Schülerin, egal wie sie sich verhalten, nun unter einer Art Generalverdacht? "Selbstverständlich nicht", wehrt Kuhlmann ab und verweist auf einen Konflikt, den seine Schule gänzlich anders aushandelte als das Gymnasium in Erfurt: Auch in Porz hatte ein Abiturient in einem Kurs zu oft gefehlt. Um dies wieder geradezurücken, hatte er, ebenso wie der Thüringer Attentäter, Atteste gefälscht. Daraufhin entschied das Kollegium, ihn nicht zum Abitur zuzulassen. Statt zur Waffe zu greifen, nahm sich der Junge einen Anwalt, legte gegen diese Entscheidung Widerspruch ein. Das Verwaltungsgericht entschied, er dürfe zunächst die Abitur-Klausuren mitschreiben. Danach sehe man weiter. "Die Oberstufenleitung an unserer Schule hat den Schülern ihre rechtlichen Einspruchsmöglichkeiten klar gemacht", erläutert Kuhlmann, "ihnen somit diesen Umgang mit der erlittenen Niederlage gezeigt."

Auch Rektor Junge vom Humboldt-Gymnasium muss sich nach Erfurt zurechtfinden. Als vor einigen Tagen Schüler der Mittelstufe sich so in die Haare gerieten, dass einer von ihnen eine mit Baseballschlägern ausgestattete Verstärkung vor das Schultor rief, da stellte sich Junge in Begleitung des Klassenlehrers dem gewaltbereiten Jugendlichenpulk entgegen. Ein bisschen mulmig war ihm schon. Aber laut ist er dennoch geworden. Hat sie gefragt, was das denn solle, man befinde sich hier doch nicht in der Bronx. "Gut", räumt Junge nach kurzem Zögern ein, "da gehen wir natürlich Risiken ein. Aber Hass, der auch für uns gefährlich werden kann, kommt immer nur da auf, wo nachgetreten wird, wo bewusst erniedrigt wird." In dem Falle, da habe er lediglich die Fronten geklärt, die Stühle geradegerückt. Und dies gehört auch zukünftig zur Aufgabe der Lehrer, betont Rektor Junge, egal, wie verunsichert manch einer nach Erfurt sein mag: "Dem können wir nicht ausweichen."



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