Sehr geehrte Frau Laister,

Ich mag nicht davon reden, ob jeder von uns eine mehr oder minder private Semantik hat, weil damit begeben wir uns auf ein wahrlich endloses Feld. Es gehört meines Erachtens zu den Gründzügen der Philosophie, dass jeder Denker seine eigene Begrifflichkeit entwickelt und dieser zumindest über einen Diskurs hinweg treu bleibt.

Ich mag mich auch nicht darauf einlassen, ob wir "die Polarisierung" in das Kästchen "gut" oder "böse" einordnen. Weil das führt rasch dazu, dass uns bald in der dünnen Luft eigener Sophismen der Atem wegbleibt.

Um nicht aneinander vorbeizuschreiben, ist es notwendig, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn wir von unseren eigenen Interessen ausgehen und diese für berechtigt halten und mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln - bis hin zum Streik - umsetzen, ihnen Geltung verschaffen wollen, dann mag es schon so sein, dass wir damit "polarisieren", denn auf der einen Seite stehen WIR, auf der anderen Seite stehen die Frau Minister Gehrer und die Frau Vizekanzler, und in ihrem Blabla sagen Sie, dass sie Marionetten vom Herrn Finanzminister sind, der sich einen Nulldefizit- Staatshaushalt wünscht.

Aber hinter dem Finanzminister steht nicht einmal die Wirtschaft, denn - wie Oskar uns so herrlich daran erinnert - selbst der Kapitalist Henry Ford hat erkannt, dass Autos keine Autos kaufen, sondern nur Menschen, die erst einmal auch gutes Geld verdienen müssen. Wenn die Lohnabhängigen immer nur verzichten, dann ruiniert diese Politik die Wirtschaft, es gibt zu wenig Nachfrage, und selbst in der FINANCIAL TIMES können Sie immer öfter nachlesen, dass die zu geringen Lohnabschlüsse dafür verant- wortlich sind, dass die Konjunkturflaute derzeit kein Ende nehmen will.

Mich empört es, wenn ich lese, dass sich Spitzenmanager ihre Gagen selber festlegen und ein Einziger von ihnen so viel verdienen kann wie 160 einfache Mitarbeiter in einem Betrieb. Wer solche Tatsachen regungslos und teilnahmslos oder mit kanzlerischer "Gelassenheit" hinnimmt, der hat weder Herz noch Hirn. Wenn ich das sage, dann riskiere ich, dass ich den Eindruck der Polarisierung erwecke, aber ich finde, dass es gerade jetzt unsere Sache ist, mit den Tatsachen herauszurücken und zu sagen, dass wir uns nicht länger in die Rolle unbeteiligter Zuschauer drängen lassen wollen, damit manche Herrschaften den Staat ausrauben und dann noch als Täter mit der weißen Weste dastehen.

Die Gewerkschaften sollten eigentlich Sammelpunkte sein, um unseren Wider- stand gegen die Schandtaten der Regierung zu organisieren und unseren berechtigten Forderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Aber leider sind dort Kleinkrämerseelen am Werk, denen es an der großen Perspektive fehlt, die nicht genug Selbstbewusstsein haben zu erkennen, dass wenn die Dinge endlich beim Namen genannt werden, die Leute auch kommen und sagen, dass sie die Nase voll haben von den Machenschaften der Regierungen und der Konzerne. Immer mehr Leute organisieren sich gegen den Imperialismus der Konzerne, gegen globalisierte Mächte und auch gegen einen verlogenen Kampf gegen Terrorismus, der in Wahrheit nur eine Generalvollmacht zur Bespitzelung und zu politischer Diskriminierung sein soll.

Es ist an der Zeit, den Verantwortlichen für die angeführten Fehlentwicklungen zu zeigen, dass sie am falschen Weg sind. Kleinliche Kurskorrekturen werden nicht verstanden. Wir haben in Österreich nun die Chance, zu erkennen, dass dieses erbärmliche Gedränge in der "politischen Mitte" ein fataler Irrtum war, der zum Desinteresse an der Politik geführt hat, und die Teilnahmslosigkeit begünstigt schließlich wieder die Rechtspopulisten. Die Rechten führen nicht wirklich einen Kampf gegen das System, sondern nur gegen ein paar Repräsentanten dieses Systems, die der ursprünglichen Idee (nämlich der Schaffuung autonomer Gegenmachtpositionen [Oskar Negt], getragen von einer moralisch einwandfreien Gruppe, die selbstlos auf dem Marsch durch
die Institutionen voranschreitet) durch das Erreichen von Positionen
entweder aufgegeben haben oder sich mit den Mechanismen und Trägheiten des Systems so weit angefreundet haben, dass jeglicher fortschrittlicher Schwung abhanden gekommen ist. Die Zeit der rotschwarzen Koalition hat diese Abstumpfung gebracht, weil unglaubwürdige Personen häufig an der Spitze standen. Es ist daher richtig, sich keine Rückkehr in den Sumpf und in das Gedränge in der vermeintlichen "politischen Mitte" zu wünschen.

Deswegen ist es notwendig, dass wir uns positionieren, d.h. festlegen. Wir sollen nicht mehr auf irgendwelche Tricks hereinfallen und uns schämen, wenn uns Kritiker Parteilichkeit vorwerfen. Natürlich sind wir parteilich, wenn wir für unsere Sache eintreten. Natürlich sagen wir, wer uns etwas vorenthält, wer Bildung nicht mehr als öffentliches Gut anerkennen möchte, sondern es zu einem privaten Gut herabstufen möchte. Da müssen wir polarisieren, damit unser Standpunkt deutlich wird. Mit schwammigen und unverbindlichen Formulierungen werden wir nicht wahrgenommen.

Zu diesem öffentlichen Verhalten soll aber auch ein nach innen gerichtetes Verhalten genauso gut passen, nämlich ein Nachdenken über die Zukunft des Bildungswesens, ein sensibles Wahrnehmen bevorstehender Heraus- forderungen, ja das Anforderungsprofil an uns selber wird es sein, dass wir "das Gras wachsen" hören anstatt abzuwarten, dass wir von Entwicklungen überrollt werden und dann mit großer Verspätung Versäumnisse aufholen.

Mit freundlichen Grüßen
Günter Wittek



----- Original Message -----
From: Sabine Laister
To: Erich Wallner
Cc: Lehrerforum
Sent: Saturday, May 18, 2002 3:17 AM
Subject: LF: sprachfallenhaarspalten


S.g. Herr Wallner

Ich entnehme der Anzahl von Mails in meiner Mailbox, dass noch einige mehr (schon sehr überraschend, wer da aller mitliest!) unsere Diskussion verfolgen. Danke für das nette Feedback. Soooo privat scheint meine Semantik ja doch nicht zu sein.

Lieber Herr Wallner, es ist zwar vermutlich nicht als Kompliment gemeint, aber ich bedanke mich trotzdem dafür: Sie haben bis jetzt immerhin neben nichts geringerem als der Bibel und dem Duden nun auch mich zitiert. Ehrt mich zutiefst. (Macht mich aber trotzdem nicht zur grossen Freundin von
Zitaten.)

Im Übrigen muss ich Ihnen gestehen, dass Ihre Ausführungen diesmal für mich über weite Strecken nicht ganz so leicht verständlich sind. Ob das an meiner Auffassungsgabe oder an Ihrem Text liegt, mögen andere beurteilen. Ich kann mich jedenfalls des Eindruckes nicht erwehren, dass wir ein bisschen aneinander vorbeischreiben.

Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich das falsch verstanden habe: Sie schätzen klare Stellungnahmen zu Sachverhalten, wer die nicht von sich gibt ist entweder harmoniesüchtig oder hat keine Zivilcourage. Warum diese Sachverhalte "divergent" sind (oder sein müssen?), und was das mit Polarisierung zu tun hat, kann ich nicht nachvollziehen. (zugegeben: ist im Grunde mein Problem)

Die Polarisierung, die ich meine, hat im gängigen Sprachgebrauch (wo er im Gegensatz zum Duden weder harmlos noch wertneutral ist) etwas mit einer grossen Gruppen von Menschen zu tun ("Polarisierung einer Gesellschaft"). Ich verstehe sie als (weder harmlosen noch wertneutralen) schleichenden, schwer fassbaren Prozess der Frontenbildung in dieser Gruppe, der zuerst über weite Strecken nur an Details erkennbar ist: An Aussagen im öffentlichen Diskurs, an einzelnen Reaktionen von Menschen aufeinander im Alltag, etc. Später dann an der Häufigkeit und/oder Vehemenz, mit der in den verschiedensten Situationen ein Bekenntnis zum einen oder anderen "Lager", zur einen oder anderen Gruppe gefordert oder unterstellt wird (damit man dann auch ordentlich seine Vorurteile ausleben kann). An der Häufigkeit und/oder Vehemenz, mit der die Verweigerung eines solchen Bekenntnisses als Schwäche heruntergemacht wird. (liebe Grüsse von der lauen Seite!) Die Gegensätze sind natürlich immer da (ich bekenne mich zur Ungenauigkeit im Ausdruck!), genauso wie Meinungsverschiedenheiten, Konflikte, Unterschiede. Die Polarisierung, die ich meine und ablehne, instrumentalisiert sie. Und DAgegen wehre ich mich.

Entschuldigens, dass ich Sie wieder mit meiner "Privat-Semantik" behellige. Ich erlaube mir, meinen Kopf gelegentlich für die Entwicklung eigener Gedanken zu verwenden. Ich kann aber leider nicht versprechen, dass ich Sie damit nicht mehr verwirre. Sollte es zu schlimm werden und ihr Mitleid mit den zurechtgebogenen Begriffen unerträglich werden, empfehle ich freundlichst, einfach von der Lektüre Abstand zu nehmen.

Andernfalls in sehnlicher Erwartung Ihrer Erwiderung

sl




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