FAZ 25 05 02
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Lehrer sein an einer Gesamtschule heißt, ans Löschen glauben, wenn das Haus brennt (1)
Jeden Tag ans Löschen glauben: Der ganz normale Klassenkampf eines Gesamtschullehrers
Abendlicher Telefonanruf des Kollegen, der in meiner Klasse Englischunterricht gibt. Er berichtet, daß sich ein Schüler von ihm mit den Worten verabschiedet habe: "Good bye, Mister! - Sie sehen mich nicht wieder, weil ich mich während der Landheimfahrt umbringen werde." Was tun? Ein Anruf bei der Mutter hat wenig Sinn, weil sie Deutsch nur sehr eingeschränkt spricht und versteht. Ist die Ankündigung des Schülers nur ein übler Scherz? Er hatte zu Beginn Schwierigkeiten in der Klasse als Außenseiter. Wir glaubten ihn integriert. Alles umsonst? Hausbesuch? Wird damit etwas dramatisiert und erst recht in Brand gesetzt? Ich entscheide mich, am nächsten Tag mit der Sozialpädagogin der Schule und befreundeten Kollegen zu telefonieren und diese um Rat zu fragen.
Ich bin Lehrer und Jahrgangsleiter in einer Integrierten Gesamtschule. Das "System IGS" hat mich während meiner gesamten Berufszeit fasziniert. Die Größe der ersten Gesamtschulen stieß mich allerdings immer ab, deshalb arbeitete ich in anderen Schultypen. Von meiner Ausbildung her bin ich
Grund- und Hauptschullehrer. Vor etwa zehn Jahren engagierte ich mich für die Gründung kleiner überschaubarer Gesamtschulen mit ausgewiesener Stadtteilorientierung. Wir waren erfolgreich, und neben den vier großen Integrierten Gesamtschulen in dieser Stadt gibt es nun zwei kleine. Hier gibt es statt der einst üblichen acht Lerngruppen pro Klassen- oder Jahrgangsstufe nur vier.
Installiert wurden die beiden neuen kleinen Schulen zum einen in einem überwiegend bürgerlich geprägten Stadtteil, zum anderen in einem sogenannten sozialen Brennpunkt, der damals unter anderem Furore gemacht hatte mit Nachrichten von Bandenkriegen zwischen türkisch- und russischstämmigen Jugendlichen. Kinder und Jugendliche des Stadtteils sprechen auch heute hier und da vom Getto, aus dem sie kommen; sie schwanken dabei zwischen Stolz und Abneigung. So wie der Stadtteil stellte sich auch die Schülerschaft dar: ein bunter Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Herkunft (türkisch, deutsch, russisch, arabisch, polnisch) aus zumeist kinderreichen Familien, deren erwachsene Mitglieder sich wenig gesellschaftlich, politisch oder sozial engagierten - häufig abhängig von Sozialhilfe, häufiger als anderswo in der Stadt arbeitslos, gesundheitlich benachteiligt. Während der aufregenden ersten Einschulungsfeier illustrierte der Vater eines Schülers ungewollt durch seine äußere Erscheinung das soziale Umfeld: untersetzte Figur, Bomberjacke, große Zahnlücken, schlecht gemachte, verblassende Tattoos auf Fingern und Unterarmen. Entgegen seiner furchteinflößenden Erscheinung erwies er sich letztlich als zugewandt und freundlich.
Als hier arbeitender Lehrer mußte man sich auf die Kinder zubewegen, "sie da abholen, wo sie standen". Ob wir wollten oder nicht, wir waren gezwungen, eine differenzierte Pädagogik zu betreiben. Ausgebildet waren wir dafür nicht. Wir mußten auf vorgesetzte Behörden zugehen und darum kämpfen, unsere strukturellen Bedingungen zu verbessern, mußten um das nötige Personal für einen Ganztagsbetrieb streiten und geeignete Personen finden. Wir saßen zusammen mit Architekten und Vertretern der Stadt im Bauausschuß und planten
An- und Neubauten. Die meisten der erforderlichen Qualifikationen hatten wir nicht gelernt, wir waren gezwungen, sie aus uns heraus zu entwickeln. Einige Kollegen mußten aufgeben, die Schule wechseln, weil sie der Mehrfachbelastung nicht gewachsen waren.
In dieser Gesamtschule habe ich eine Lerngruppe von der fünften bis zur zehnten Klasse geführt. Beim Betrachten älterer Fotos werde ich manchmal wehmütig und frage mich nach denen, die auf der Strecke geblieben sind: der Sintijunge, der mit knapp vierzehn Jahren Vater und nach altem Ritus verheiratet wurde; das Sintimädchen, mit zwölf Jahren seine Frau, in die Ehe gepreßt, um sie zu disziplinieren; das elfjährige Mädchen, das schon in der fünften Klasse mit ihren selbstbebilderten sexuellen Phantasien auffällig
wurde; der Junge aus der ehemaligen Sowjetunion, der in einem fernen Krieg auf Menschen geschossen und sich in der Wohnung seiner Familie tagelang verbarrikadiert hatte, nicht zu retten war und heute kriminell ist; die Sechzehnjährige, die früh schwanger wurde, weil sie keinen anderen Weg aus der familiären Zwangssituation wußte; der kurdische Junge jesidischen Glaubens mit einer katastrophalen Rechtschreibung, der vielleicht deshalb nicht schreiben konnte, weil seine Religion auf schriftliche Überlieferungen
verzichtet; die Aggressiven, die der Schule verwiesen wurden; die kleinen Diebe, schon früh aktenkundig; die Kinder alkoholkranker Eltern . . .
(...)
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