FAZ 25 05 02
Lehrer sein an einer Gesamtschule heißt, ans Löschen glauben, wenn das Haus brennt (2)
Jeden Tag ans Löschen glauben: Der ganz normale Klassenkampf eines Gesamtschullehrers
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In unserer Schule leiten zwei Lehrer eine Klasse: Mann und Frau. Wir sprechen immer viel und ausführlich mit unseren Schülern. Methoden der Gesprächsführung mußten wir uns mühsam aneignen, so etwas lernt man nicht in der Hochschule. Wir wissen eine Menge von den Kindern, manchmal zu viel. Wir nehmen ihre Last und oft auch unsere Ohnmacht mit nach Hause zu unseren Angehörigen und Familien. Wenn ich die Schüler meiner neuen fünften Klasse ansehe, befällt mich Angst, daß ich wieder Kinder verliere, daß sie abdriften in gesellschaftliche oder persönliche Randbereiche und ihre Zukunft verlieren. Seit einigen Jahren macht man verstärkt hyperaktive Kinder aus, die in den meisten Fällen mit dem umstrittenen Mittel Ritalin behandelt werden; sie haben uns nun nach ihrer Grundschulzeit erreicht. Wenn die Wirkung der Pille gegen 11 Uhr nachläßt, macht sich Unruhe breit. Eine Ganztagsschule kann wegen der langen Verweilzeit bis zum Nachmittag recht schwierig für sie und ihre Mitschüler sein; wir müssen neu über den Rhythmus unseres Tagesablaufs nachdenken.
Die neuen Schüler freilich sind verändert, grüßen auf dem Flur, bedanken sich für Unterricht, der ihnen gefallen hat, zeigen Empathie mit Lehrern und Mitschülern, sind begeisterungsfähig. Das haben wir lange vermißt. Das mindert jedoch nicht Schwierigkeiten und Defizite, sie treten auf diesem Hintergrund vielleicht um so schärfer hervor. Der Förderbedarf ist weiterhin hoch in etwa folgenden Bereichen: Rechtschreibung, Lesefertigkeit, grammatisch richtiges Sprechen und Schreiben, Informationsentnahme aus Texten, Grundrechenarten, Kopfrechnen und Arbeitsorganisation. Die Feinmotorik ist bei etlichen Schülern nicht ausreichend entwickelt, das Arbeitstempo bei der Erledigung von Aufgaben extrem unterschiedlich.
Trotz positiver Verhaltensänderungen beschäftigen wir uns wöchentlich mehrfach mit Regelverstößen der Schüler, die uns Zeit und Kraft kosten und unser ganzes Geschick beim Führen der Gespräche und Recherchieren erfordern. Wenn dann noch im nahen Drogeriemarkt nach Jahren wieder einmal von unseren jungen Schülern gestohlen wird, dann "brennt das Haus".
Die Schüler sollen begreifen, daß es wenig mit Petzen zu tun hat, wenn sie den Lehrern beispielsweise berichten, daß türkische Jungen auf der Toilette mit einer Babyflasche Wodka den Geschmack des Alkohols testen. Mit dem Wodka-Zwischenspiel waren zwei Lehrkräfte mindestens zwei Vormittage beschäftigt - in den großen Pausen oder in ihrer Freizeit. Es mußten die Beschuldigten befragt, widersprüchliche Aussagen geprüft werden. Es war wichtig, die Zeugen so zu schützen, daß sie unerkannt blieben. Es galt, Strategien zu entwickeln, wie die Eltern so einzubinden waren, daß sie nicht überreagierten. Geeignete Strafen sollten gefunden werden; die Missetat mußte in Unterricht umgesetzt werden, damit für alle ein Lernerfolg deutlich wurde.
Bei den spektakulären Fällen (Alkohol, Drogen, Rauchen, Diebstahl,
Sachbeschädigung) geraten kleinere Merkwürdigkeiten häufig aus dem Blick. Vier recht stille, zumeist höfliche Jungen meiner Klasse - unter anderem der, der seinen Suizid ankündigte - fielen auf, weil sie auf dem Pausenhof merkwürdig zeitverzögerte Bewegungen machten und sich dabei ansahen. Plötzlich gerieten sie in Bewegung, sprangen aufeinander zu, schrien Unverständliches und machten schnelle Arm- und Beinbewegungen, die an Schattenboxen erinnerten.
Dabei handelte es sich um Adaptionen der populären japanischen Manga-Comics, deren Kämpfe hier nachgestellt werden. Kennen Sie Vegeta, Trunks, Son-Gohan? Ich mache mir die Mühe und kaufe einen der einschlägigen Comics; etliche Seiten zeigen neben den vier bis sieben Bildern etwa folgenden Text: "Hör auf damit!" - KANG - BABAMM - BASCH!- GUOOO - ZOUUM - RRAAH!! - DOOM! - RAUSCH. Eine Anzeigenseite eines Softwareherstellers in demselben Magazin wirbt für ein entsprechendes Spiel: "Es haben die Programmierer die Klopperei perfekt umgesetzt, so daß ihr jetzt auch in der Straßenbahn oder wo auch immer in den Ring steigen könnt. Genial: wenn's besonders heiß zur Sache geht, zoomt euch die Kamera mitten ins Kampfgetümmel hinein."
Was träumt sich hier weg und wohin? Muß ich intervenieren? Aber wie?
Meine vier Jungen vom Schulhof sind ein wenig benachteiligt; der eine leidet unter seinem stärkeren Zwillingsbruder, der zweite probiert seit drei Jahren seiner Legasthenie Herr zu werden und kämpft mit Schulunlust, ein dritter war aus der Grundschule angekündigt als "der Haucher", der sich mit intensivem Ausatmen direkt in das Gesicht des vermeintlichen Gegenspielers wehrte, und der vierte fällt auf durch chaotische Organisation und müdes Verträumtsein. Immer wenn sie sich unbeobachtet glauben, sind meine Schüler inzwischen dazu übergegangen, an graphisch und ästhetisch ansprechenden Stadtplänen zu zeichnen und zu feilen. Das sind Pläne ihrer Städte, Teile der Pausenspiele, strotzend vor Waffen und Waffensystemen, die sie schützen sollen gegen die Angriffe aus den anderen verfeindeten Städten ihrer Mitschüler.
Früher waren die Lehrer über Fächer definiert, die Öffentlichkeit tut es wohl immer noch. Neue Bekannte fragen stets: "Und welche Fächer unterrichten Sie?" Diese Frage verärgert mich zunehmend. Warum fragt man beispielsweise
nicht: "Und wie bereiten Sie auf das Leben vor?"
EKKEHARD FISS
Der Autor, Jahrgang 1949, ist ein Jahrgangsleiter der Integrierten Gesamtschule Vahrenheide/Sahlkamp in Hannover.
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