Wie es scheint, bildet der Amoklauf in der jüngsten globalen Gewaltkultur die logische Verbindung von Aggression gegen andere und Auto-Aggression, eine Art Synthese von inszeniertem Mord und inszeniertem Selbstmord. Die meisten Amokläufer töten nicht nur wahllos, sondern richten sich anschließend auch selbst hin. Und die verschiedenen Formen von postmoderner Gewalt beginnen zu verschmelzen. Der potentielle Raubmörder ist auch ein potentieller
Selbstmörder; und der potentielle Selbstmörder ist auch ein potentieller Amokläufer. Im Unterschied zu den Amokläufen in vormodernen Gesellschaften (das Wort "Amok" stammt aus der Malaiischen
Sprache) handelt es sich nicht um spontane Anfälle von wahnhafter Wut, sondern stets um lange und sorgfältig geplante Aktionen. Das bürgerliche Subjekt ist eben sogar dann noch von strategischer "Selbstkontrolle" und funktionaler Disziplin bestimmt, wenn es in mörderischen Wahn verfällt. Die Amokläufer sind außer Kontrolle geratene Roboter der kapitalistischen Konkurrenz: Subjekte der Krise, die den Begriff des modernen, aufgeklärten Subjekts bis zur Kenntlichkeit enthüllen.

Selbst einem sozialtheoretisch Blinden muß die Parallele zu den Terroristen des 11. September 2001 und zu den Selbstmordattentätern der palästinensischen Intifada auffallen. Viele westliche Ideologen wollten diese Taten mit durchsichtiger Apologetik unbedingt dem "fremden Kulturkreis" des Islam zuordnen. Über die jahrelang in Deutschland und den USA ausgebildeten Attentäter von New York wurde in den Medien gern gesagt, sie seien trotz äußerer Integration psychisch und ideell "nicht im Westen angekommen". Das Phänomen des terroristischen Islamismus mit seinen Selbstmord-Attentaten sei dem historischen Problem geschuldet, daß es im Islam keine Epoche der Aufklärung gegeben habe. Die offenkundige innere Verwandtschaft von westlichen jungen Amokläufern und islamischen jungen Selbstmordattentätern beweist das genaue Gegenteil.

Beide Phänomene gehören in den Zusammenhang der kapitalistischen
Globalisierung; sie sind das letzte, "postmoderne" Resultat der bürgerlichen Aufklärung selber. Gerade weil sie im Westen in jeder Hinsicht "angekommen" sind, haben sich die jungen arabischen Studenten zu Terroristen entwickelt. In Wahrheit ist zu Beginn des 21. Jahrhundert der "Westen" (sprich: die Unmittelbarkeit des Weltmarkts und seiner totalitären Konkurrenz-Subjektivität) überall, wenn auch unter verschiedenen Bedingungen. Die Differenz der Bedingungen hat aber mehr mit unterschiedlicher Kapitalkraft als mit der Verschiedenheit der Kulturen zu tun. Die kapitalistische Vergesellschaftung ist heute in allen Kontinenten nicht sekundär, sondern primär; und was als "kulturelle Differenz" von den postmodernen Ideologen hypostasiert wurde, gehört eher einer dünnen Oberfläche an.

Das Tagebuch eines der beiden Amokschützen von Littleton wird von den US-Behörden nicht ohne Grund unter Verschluß gehalten. Durch Indiskretion eines Beamten wurde bekannt, daß der jugendliche Täter unter anderen Gewaltphantasien folgendes notiert hatte: "Warum nicht irgendwann ein Flugzeug stehlen und auf New York City stürzen lassen?". Wie peinlich: Was als besonders perfide Untat von kulturell Fremden dargestellt wurde, hatte schon vorher im Kopf eines ureigenen Gewächses von "freedom and democracy" Gestalt angenommen. Längst verdrängt hat die offizielle Öffentlichkeit auch, daß wenige Wochen nach dem 11. September in den USA ein 15-jähriger Nachahmungstäter mit einem Kleinflugzeug in ein Hochhaus gestürzt war. Allen Ernstes hieß es in US-Medien, der Junge habe eine Überdosis von Präparaten gegen Pickel eingenommen und sei deswegen vorübergehend geistesgestört gewesen. Diese "Erklärung" ist ein würdiges Produkt der Aufklärungsphilosophie in ihrem positivistischen Endstadium.

In Wirklichkeit stellt das "Dürsten nach dem Tod" ein postmodernes soziales Weltphänomen dar, das an keinen besonderen sozialen oder kulturellen Ort gebunden ist. Dieser Impuls läßt sich auch nicht als Summe von bloß zufälligen Einzelerscheinungen verharmlosen. Denn auf einen, der es wirklich tut, kommen Millionen, die sich in denselben ausweglosen Denk- und Gefühlsmustern bewegen und mit denselben morbiden Gedanken spielen. Nur scheinbar nehmen die islamistischen Terroristen im Unterschied zu den individuellen westlichen Amokläufern organisierte religiös-politische Motive in Anspruch. Beide sind gleich weit von einem klassischen "Idealismus" entfernt, der die Opferung des eigenen Selbst mit realen gesellschaftlichen Zielen rechtfertigen könnte.


--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.