In Europa wurden diese Schul-Massaker zunächst noch im Kontext des traditionellen Antiamerikanismus als kulturspezifische Konsequenz von Waffenkult, Sozialdarwinismus und mangelnder sozialer Erziehung in den USA gedeutet. Aber die USA sind eben in jeder Hinsicht das Vorbild für die gesamte kapitalistische Welt der Globalisierung, wie sich bald zeigen sollte. Nur eine Woche nach der Tat von Littleton schoß in der kanadischen Kleinstadt Taber ein 14-Jähriger um sich und tötete einen Mitschüler. Weitere Schul-Massaker wurden in den 90er Jahren aus Schottland, Japan und mehreren afrikanischen Ländern gemeldet. In Deutschland erstach im November 1999 ein 15-jähriger Gymnasiast seine Lehrerin mit zwei Messern; im März 2000 erschoß ein 16-Jähriger seinen Schuldirektor und beging danach einen Selbstmordversuch; im Februar 2001 tötete ein 22-Jähriger mit einem Revolver den Chef seiner Firma und danach den Direktor seiner früheren Schule, um sich zuletzt selber mit einer Rohrbombe in die Luft zu sprengen. Der jüngste Amoklauf eines 19-Jährigen in Erfurt, der Ende April 2002 mit einer Pump-Gun während der Abiturprüfung 16 Menschen (darunter fast das gesamte Lehrerkollegium seiner Schule) niedermetzelte und sich danach selbst in den Kopf schoß, war nur der bisherige Höhepunkt einer ganzen Serie.
Natürlich kann das Phänomen der Schul-Massaker nicht isoliert gesehen werden. Die barbarische "Kultur des Amoklaufs" ist längst in vielen Ländern zum periodischen Medienereignis geworden; die jugendlichen Amok-Schützen an den Schulen bilden nur ein Segment dieser sozialen Mikro-Explosion. Die Agenturberichte über Amokläufe aus allen Kontinenten lassen sich kaum mehr zählen; wegen ihrer relativen Häufigkeit werden sie von den Medien nur noch übernommen, wenn sie besonders spektakulär ausfallen. So kam jener biedere Schweizer, der Ende 2001 mit Schnellfeuerwaffen ein halbes Kantonats-Parlament durchsiebte und danach Selbstmord beging, ebenso zu trauriger Weltberühmtheit wie jener arbeitslose französische Hochschulabsolvent, der wenige Monate später mit zwei Pistolen das Feuer auf den Stadtrat der Pariser Vorstadt Nanterre eröffnete und acht Kommunalpolitiker tötete.
Ist der bewaffnete Amoklauf allgemeiner als die speziellen Schul-Massaker, so sind beide Phänomene wiederum in den größeren Zusammenhang einer binnengesellschaftlichen Gewaltkultur eingeordnet, wie sie die gesamte Welt im Zuge der Globalisierung überschwemmt. Dazu gehören die zahlreichen virtuellen und manifesten Bürgerkriege, die Plünderungsökonomie in allen Kontinenten, die bewaffnete Massenkriminalität von Banden in den Slums, Ghettos und Favelas; überhaupt die allgemeine "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln". Es ist einerseits eine Kultur des Raubs und des Mords, deren Gewalt sich gegen andere richtet; die Täter nehmen allerdings bewußt das "Risiko" in Kauf, selber getötet zu werden. Gleichzeitig wächst aber andererseits auch die unmittelbare Auto-Aggression an, wie die steigenden Selbstmordraten bei Jugendlichen in vielen Ländern beweisen. Zumindest für die moderne Geschichte ist es dabei ein Novum, daß der Selbstmord nicht nur aus individueller Verzweiflung, sondern auch in organisierter Form und massenhaft verübt wird. In so weit auseinanderliegenden Ländern und Kulturen wie den USA, der Schweiz, Deutschland und Uganda haben in den 90er Jahren mehrfach sogenannte "Selbstmordsekten" durch Akte des kollektiven und ritualisierten Freitods auf makabre Weise Aufmerksamkeit erregt.
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