Über die zahlreichen neuen Bürgerkriege wie über den Vandalismus in den westlichen Zentren hat der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger festgestellt, daß es dabei "um nichts mehr geht". Um zu verstehen, muß man den Satz umdrehen: Was ist dieses Nichts, um das es geht? Es ist die vollkommene Leere des zum Selbstzweck erhobenen Geldes, das als säkularisierter Gott der Moderne nunmehr endgültig das Dasein beherrscht. Dieser verdinglichte Gott hat an sich keinerlei sinnlichen oder sozialen Inhalt. Alle Dinge und Bedürfnisse werden nicht in ihrer Eigenqualität anerkannt, sondern diese wird ihnen vielmehr genommen, um sie zu "ökonomisieren", also sie in bloße "Gallerten" (Marx) der Verwertung und damit in gleich-gültiges Material zu verwandeln. Exekutor dieser "Vergleichgültigung" der Welt ist die totale Konkurrenz.

Es ist eine Täuschung, zu glauben, daß der Kern dieser universellen Konkurrenz die Selbstbehauptung der Individuen sei. Ganz im Gegenteil ist es der Todestrieb kapitalistischer Subjektivität, der als letzte Konsequenz zum Vorschein kommt. Je mehr die Konkurrenz die Individuen dem realmetaphysischen Vakuum des Kapitals ausliefert, desto leichter gleitet das Bewußtsein in einen Zustand, der über den Begriff des bloßen "Risikos" oder "Interesses" hinausweist: Die Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen schlägt um in die Gleichgültigkeit gegen das eigene Selbst. Ansätze dieser neuen Qualität sozialer Kälte als "Kälte gegen sich selbst" zeigten sich schon in den großen Krisenschüben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Philosophin Hannah Arendt hat in diesem Sinne von einer Kultur der "Selbstverlorenheit" gesprochen, von einem "Selbstverlust" der entwurzelten Individuen und einer "Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung" aufgrund des "Gefühls, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann".

Jene Kultur der Selbstverlorenheit und Selbstvergessenheit, die Hannah Arendt noch ausschließlich auf die damaligen totalitären politischen Regimes bezog, findet sich heute in viel reinerer Form im ökonomischen Totalitarismus des globalisierten Kapitals wieder. Was in der Vergangenheit Ausnahmezustand war, wird zum Normal- und Dauerzustand: Der "zivile" Alltag selbst geht in die totale Selbstverlorenheit der Menschen über. Dieser Zustand betrifft nicht nur die Armen und Herausgefallenen, sondern alle, weil es der übergreifende Zustand der Weltgesellschaft geworden ist. Das gilt besonders für die Heranwachsenden, die keinen Vergleichsmaßstab und kein Kriterium der möglichen Kritik mehr haben. Es ist ein identischer Selbstverlust und Verlust der Urteilsfähigkeit angesichts des überwältigenden ökonomischen Imperativs, der Schlägerbanden, Plünderer und Vergewaltiger ebenso kennzeichnet wie die Selbstausbeuter der New Economy oder die Bildschirmarbeiter des Investmentbanking.

Was Hannah Arendt über die Voraussetzungen des politischen Totalitarismus sagte, ist heute offizielle Hauptaufgabe der Schule, nämlich den Kindern "das Interesse an sich selbst aus der Hand zu schlagen", um sie in abstrakte Leistungsmaschinen zu verwandeln; und zwar als "Unternehmer ihrer selbst", also ohne jede Garantie. Diese Kinder lernen, daß sie sich auf dem Altar der Verwertung opfern und auch noch "Spaß" daran haben müssen. Schon Grundschüler werden mit Psychopharmaka vollgestopft, damit sie auf Biegen und Brechen mithalten können. Das Resultat ist eine gestörte Psyche reiner Asozialität, für die Selbstbehauptung und Selbstzerstörung identisch geworden sind. Es ist der Amokläufer, der notwendigerweise hinter dem fröhlichen "Selbstmanager" der Postmoderne zum Vorschein kommt. Und die marktwirtschaftliche Demokratie weint Krokodilstränen über ihre verlorenen Kinder, die sie selber systematisch zu autistischen Monstern erzieht.



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