Die Furche
http://www.furche.at/archivneu/archiv2002/fu2202/11.shtml
Susanne Gaschke, Publizistin, über den Umgang mit Jugendlichen
„Pseudoliberales Gewährenlassen“
Die Furche:
Vergangene Woche beging bei uns in Österreich ein zehnjähriges Mädchen Selbstmord, wobei die Angst, eine Mathematik-Arbeit verpatzt zu haben, eine Rolle gespielt haben dürfte. Vor einigen Wochen kam es in Erfurt zur mörderischen Tragödie. Überfordert die Schule die heutige Jugend? Ist sie ein Ort, der Gewalt- und Wutphantasien nährt?
Susanne Gaschke:
Ich persönlich halte das für Unsinn. Die Gesellschaft insgesamt ist so, dass sie Verlierer nicht gerne hat. Was noch dazu kommt: Heute werden die Menschen für ihren Misserfolg persönlich schuldig gemacht, es schützt sie keine Herkunft und kein Milieu mehr. Für Jugendliche kann das zur großen Belastung werden. Überzogenen schulischen Leistungsdruck als Erklärungsmodell etwa für Erfurt zu wählen, halte ich jedoch schlichtweg für unsinnig, da es diesen so nicht mehr gibt. Eher dürfte das Gegenteil
zutreffen: Man hat die Schule in letzter Zeit wo immer es ging entgrenzt und entkanonisiert. Bei den jüngsten Jugend-Selbstmorden muss man sich eher nach dem Zuhause fragen. Wie schlimm müssen Verhältnisse sein, dass man sich dort nicht mehr offenbaren kann? In einer intakten Familie müsste es doch so ablaufen, dass man weinend nach Hause kommt und den Eltern sagt, wie gemein doch die Welt sei. Wenn es auch keine Begründung ist, so kommt noch hinzu, dass wir zumindest in Deutschland inzwischen ein ungemein lehrerfeindliches Klima haben. Erfurt war ja kein blindwütiges Massaker, sondern ein geplantes Exekutieren von Lehrern. Ich denke, auf so etwas muss man ja auch erst kommen. Oder anders
gesagt: Dass es die Lehrer traf, hat ja wohl auch mit klimatischen Wertschätzungen einer Gesellschaft zu tun. Wer wird geachtet? Wer darf zum Sündenbock freigegeben werden?
Die Furche:
Rund um die tragischen Ereignisse von Erfurt sind auch diverse Gewalt-Computerspiele wieder ins Gerede gekommen. Der Attentäter Robert Steinhäuser war, wie man heute weiß, ein Computerspiel-Freak, der bevorzugt Brutal-Games wie „Counterstrike“ gespielt hat. Welche Rolle messen Sie diesen virtuellen Gewalt-Spielen zu?
Gaschke:
Die wesentliche Frage ist doch, ob wir als Gesellschaft eine Kultur, die Gewalt völlig unkritisch verherrlicht, gleich ob jetzt Kino, Video, Computerspiel oder Comic, für akzeptabel halten. Ich erinnere mich auch an die durchwegs unkritische Rezension des Romans „American Psycho“ im Feuilleton, in dem (sexuelle) Gewalt zum Exzess dargeboten wurde. Es ist schon klar, dass Intellektuelle mit Gewaltdarstellungen anders umgehen können, dennoch ist dieser „Liberalismus für Starke“ auch dann zu hinterfragen, wenn man dadurch den beliebten „Zensur-Alarm“ auslöst. Es sind nun einmal nicht alle so urteilsfähig und stark. Dass sich unsere Aggressionsschwelle unmerklich verschiebt, merkt doch jeder, ganz gleich ob im Straßenverkehr oder in der Einkaufsschlange. Mir scheint, dass diese Brutalität selbst in ganz banalen Bereichen gesellschaftlich in Kauf genommen wird. Dass Kinder und Jugendliche dies dann vielleicht nicht richtig einordnen können, sollte uns nicht wundern. Die Verteidigungsrhetorik der Computerspiel-Branche nach Erfurt war schlichtweg lächerlich, vor allem deren Hinweis auf die freie Meinungsäußerung. Problematisch ist aber auch unser Zug, sämtliche Dinge zu relativieren und gleichzeitig einem Jugendkult anzuhängen, der die Jugendlichen selbst nicht mehr ernst zu nehmen bereit ist.
Die Furche:
Seit einigen Jahren gibt es so etwas wie eine neue Debatte über die Rolle des Vaters. Bei den Frauen scheint solches kaum thematisiert zu werden. Kann man der feministischen Theorie gerade dies nicht auch zum Vorwurf machen, nämlich die natürliche Rolle der Mutter vergessen zu haben?
Gaschke:
Also, da bin ich mir nicht so sicher. Wir leben heute in einer hoch artifiziellen Welt, in der nahezu nichts mehr in die Rubrik „natürlich“, im Sinne von unabänderlich, fällt. Mir scheint es wichtiger zu sein, dass man die Aufmerksamkeit auf die inhaltliche Qualität der traditionellen Mutter-Rolle lenkt, auf die ihr zugeschriebenen Werte: Wärme, Da-Sein, Sich-Kümmern, Sich-Aufopfern. Wer tut das heute für seine Mitmenschen? Für seine Nachbarn? Für seine alten Eltern? Ich will damit nicht sagen, dass die Frauen zurück in die Küche sollen. Aber als Gesellschaft müssen wir uns überlegen, ob wir auf diese Zuwendung denn ganz verzichten können. Und wie sie heute organisiert werden kann. Zur feministischen Theorie: Der Grundvorwurf, den man dieser Theorie machen kann, ist, dass sie eigentlich nirgendwohin geführt hat. Wir haben heute keine neue Aufteilung, sondern das Faktum, dass sich Frauen einen Teil der von Härte dominierten Arbeitswelt erobert haben.
Die Furche:
Spielt da nicht auch unser Geschichtsverständnis eine gewisse Rolle, das gemeinhin der Zeit vor 1968 nur Attribute wie Enge, Muffigkeit, Spießigkeit zuschreibt, zugleich aber vielleicht auf andere Qualitäten vergisst, die gerade heute wieder nachgefragt sind?
Gaschke:
Die Fortschrittslogik und die damit einhergehende Rhetorik sind einfach so stark, dass eine Rückkehr zu vielleicht durchaus Bewährtem gänzlich unmöglich ist. Es muss also etwas Neues sein. Vielleicht muss man den Achtundsechzigern am meisten vorwerfen, dass sie ihre eigenen Ideale verraten haben. Die antiautoritäre Erziehung war eine aufwändige Veranstaltung – eher etwas für die Eliten und weniger ein Rezept für schwer schuftende Menschen. Schlussendlich hat diese neue, durchaus menschenfreundliche Zuwendung die Kinder sicher oft überfordert: Mit dreijährigen Kindern kann man nicht diskutieren, ob sie müde sind. Tatsache bleibt, dass diese an sich hübsche Idee an der Wirklichkeit grandios gescheitert ist. Und heute dient diese Theorie oftmals nur noch dazu, es sich bequem zu machen, da man die aufwendige Auseinandersetzung mit dem Kind einfach gestrichen hat und nur das Gewährenlassen übrigbleibt.
Die Furche:
Ist Ihre Skepsis gegenüber dem Fernsehen auch auf die gegenwärtige, bildungspolitisch massiv geförderte, Parole „Alle Schulen an das Netz“ übertragbar?
Gaschke:
Absolut. Das Autofahren oder den richtigen Gebrauch eines Handys überlassen wir ja auch den Menschen zur privaten Aneignung. Und es gelingt ihnen ganz gut. Warum wir es beim Computer grundsätzlich anders halten, ist mir nicht einsichtig. Viel eher scheint es mir problematisch zu sein, Schüler, die sich vielleicht noch mit der eigenen Ausdrucksfähigkeit schwer tun, mit Internet und PC-Kenntnissen abzufüttern. Was nützt das alles den jungen Leuten im späteren Leben, wenn es ihnen im Gegenzug an entwickelten tauglichen kulturellen Fähigkeiten mangelt?
Die Furche:
Warum ist es dann aber so, dass in der öffentlichen Debatte diesen Kritikpunkten kaum Gehör verschafft wird?
Gaschke:
Ich denke, der PC gehört zu den großen Mythen unserer Zeit. Das gilt vielleicht vor allem für die Sozialdemokraten, die im Grunde ihres Herzens oft Technokraten sind. Die Technikkritik der Sozialdemokratie war nur ein kurzes Phänomen der achtziger Jahre, viel prägender ist ihre große Technologie-Gläubigkeit. Früher war es die Atomenergie, heute ist es der Computer, von dem man sich so vieles erhofft. Ob der einzelne Mensch mit den Informationen etwas anfangen kann, ob sie ihm helfen, ist aus dieser Perspektive völlig unerheblich. Dazu kommt noch, dass vielleicht dahinter die große Verzweiflung steht, überhaupt noch irgendwie an die Menschen heranzukommen. Die Bereitstellung von zugänglicher Technik wäre somit das einzige, mit dem man noch die Gesellschaft „steuern“ kann.
Die Furche:
Noch einmal zu Erfurt zurück. Welche Schritte wären Ihres Erachtens zu setzen? Welches neues Selbstverständnis sollte um sich greifen?
Gaschke:
Das Vorhaben der deutschen Bundesregierung, die Jugendschutzbestimmungen auch auf die Computerspiele auszuweiten, halte ich für richtig und notwendig, auch wenn wir alle wissen, dass mit solchen Verboten diese Spiele nicht sofort vom Markt wären. Es ist aber ein erster wichtiger Schritt. Wesentlicher erschiene mir die Frage, ob man in dieser Richtung eine wirkliche Boykott-Bewegung zustande brächte? Dazu müsste man massiv in die Schulen hinein gehen, mit Eltern und Lehrern reden, Druck gegen diese Gewalt-Kultur machen. Dazu braucht man auch keine neuen Lehrpläne. Weiters bräuchte man noch einige Symbolfiguren an der Spitze, damit das Breitenwirkung erhält. Erinnern wir uns doch: Wir haben eine solche Diskussion vor 20, 30 Jahren schon einmal in Sachen Kriegsspielzeug erfolgreich geführt. Es geht jedenfalls um eine massive inhaltliche Auseinandersetzung mit den Jugendlichen und eine Abkehr von diesem Gewährenlassen, welches sich gerne als liberal ausgibt, die Wirklichkeit des massiven wirtschaftlichen Interesses jedoch durchwegs verschweigt. Die Erzeuger, die Firmen müssen sich so richtig schlecht fühlen. Und bei den
Jugendlichen: Hier herrscht in Politik und anderswo der Eindruck vor, dass man die Jugend heute hätscheln muss mit der Konsequenz, dass vieles nur sehr billig an sie weitergegeben wird. Viel wesentlicher wäre, der Jugend klarzumachen, wie viele Bereiche ihrer sogenannten Jugendkultur nichts mit geschaffener Kultur, sondern mit einem kommerziellen Angebot zu tun hat, welches ihnen über die Jahre hin eingeredet wurde.
Das Gespräch führte Hans-Christian Heintschel.
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.