Profil 09 06 02 Teil 1
Reif ohne Prüfung?
Die Folge des aktuellen Matura-Streits: Wirklich abschaffen will sie niemand. Aber trotzdem soll alles anders werden. Von Nina Horowitz, Otmar Lahodynsky und Edith Meinhart
Forsch knallt die blonde Schülerin vier handgeschriebene Zettel auf das Pult und meint: „Ich werde mich kurz halten.“ Der Handelsakademieprofessor hat seine Frage noch nicht fertig formuliert, rattert sie schon los wie ein
Maschinengewehr: Neoliberalismus. Monetarismus. Angebotstheorie. Zack. Zack. Zack. Verwundert, amüsiert und ein bisschen besorgt versuchen die anwesenden Prüfer der Hochgeschwindigkeitsrede zu folgen. Das Glas Wasser, das der Direktor der Kandidatin mit einem besorgten „Ganz ruhig“ hinstellt, führt sie nur kurz und eher anstandshalber an die Lippen. Nach zehn Minuten ist der Auftritt zu Ende. Manuela Korber, 19, holt tief Luft: „Das war nur die Spitze des Eisberges, den Rest können Sie in meinen Unterlagen nachlesen.“
Zwei Minuten später steht die Maturantin vor dem Konferenzzimmer der Handelsakademie in der Wiener Hetzendorfstraße und schimpft: „Das Theater gehört abgeschafft. Was soll so eine punktuelle Leistungsshow aussagen? Ich hatte immer lauter Einser und hätte heute noch viel mehr zu sagen gehabt.“
Etwa zur selben Zeit tippt die adrett gekleidete Katharina Husslein, Tochter des Wiener Stargynäkologen Peter Husslein und der Museumsdirektorin Agnes Husslein, im Gang des Wiener Nobelgymnasiums Theresianum eine SMS-Botschaft ins Handy: „Mit gutem Erfolg bestanden“. Gestern noch hätte sich die junge Dame mit dem FPÖ-Vorschlag, die Matura zu streichen, durchaus anfreunden können, schon deshalb, „weil ich nicht gern vor vielen Leuten spreche“. Aber jetzt, mit dem Reifezeugnis in der Tasche, sieht die Welt auf einmal wieder sehr einladend aus. „Ich hab’s geschafft, und das macht mich stolz.“ In wenigen Wochen geht es nach London, für ein Praktikum beim Auktionshaus Christie’s, „und dann will ich irgendwo im Ausland Kunst studieren“.
Für Manuela Korber und Katharina Husslein ist das Thema Matura abgehakt. Für die Politik hat die Diskussion um die Reifeprüfung erst richtig begonnen. Vorvergangene Woche preschte FPÖ-Generalsekretär Karl Schweitzer, früher Lehrer an einer burgenländischen Handelsakademie, in einem „Kurier “-Interview mit einer auf den ersten Blick populär erscheinenden Idee vor. Die jetzige Form der Matura sei ein kostspieliger „Anachronismus“, mit dem „Schluss gemacht“ werden müsse, um den geplagten Mittelschülern „eine zusätzliche nervliche Belastung ohne zusätzlichen Nutzen“ zu ersparen.
Schweitzers Interview wurde als Plädoyer für die Abschaffung der Matura verstanden, die Reaktionen fielen dementsprechend aus: Das Land heulte auf. Die Forderung, die große Prüfung an der Schwelle zum Erwachsenwerden einfach zu streichen, die heilige Kuh des humanistischen Bildungsbürgertums so mir nichts, dir nichts zu schlachten und damit womöglich in einem Aufwaschen auch noch die Zutrittsbarriere zu den Universitäten und Hochschulen zu senken, sorgte, gelinde gesagt, für erhebliche Irritationen.
Schweitzers Parteifreund FPÖ-Klubchef Peter Westenthaler dementierte
umgehend: „Niemand will die Matura abschaffen.“ Auch ÖVP-Klubobmann Andreas Khol reagierte unwirsch: „Mit dem ÖVP-Klub wird es eine Abschaffung sicher nicht geben.“ Und das schon aus pädagogischen Gründen. Khol: „Dass man Prüfungen unter hohem Stress ablegen muss, gehört zur Schulung für das spätere Leben dazu.“ Auch Bildungsexperten winkten sofort ab. „Der Herr Schweitzer hat einen Fenstertag für ein Sommerloch gehalten“, empörte sich die Wiener SPÖ-Stadtschulrätin Susanne Brandsteidl unter Bezugnahme auf den Erscheinungstermin von Schweitzers „Kurier“-Interview. „Die Matura abzuschaffen, nur weil sie Stress beinhaltet, halte ich für puren Populismus.“
In der Bevölkerung erntet der Vorstoß des FPÖ-Generalsekretärs bloß verhaltene Zustimmung. Wie eine vom Meinungsforschungsinstitut market im Auftrag von profil vergangene Woche durchgeführte Umfrage ergab, halten nur fünf Prozent der Österreicher die Matura für entbehrlich. Der Großteil der Befragten, nämlich 48 Prozent, meinen, Änderungen seien nicht notwendig. 34 Prozent der Bevölkerung sind jedoch der Ansicht, die Matura sollte zwar beibehalten, aber reformiert werden.
Dem FPÖ-Politiker ist es mit seinem genau in die Maturazeit geplatzten Interview jedenfalls gelungen, eine Debatte loszutreten, bei der die Fronten quer durch die parlamentarischen Sitzreihen von Regierung und Opposition verlaufen.
Auf Tod oder Leben
Geht es nach Schweitzer, sollen die Schüler künftig ab der siebten Klasse Arbeiten im Team verfassen, deren Ergebnisse in die mündliche Matura einfließen sollen. SPÖ-Bildungssprecher Dieter Antoni konstatierte, Schweitzer habe sich „unseren langjährigen Forderungen nach einer Reform der Matura angeschlossen“. Eine Prüfung, bei der „an einem einzigen Tag auf Tod oder Leben abgefragt wird und man dabei weder Bücher noch das Internet verwenden darf“, sei längst nicht mehr zeitgemäß, so Antoni. Die Grünen wollen Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) im Nationalrat sogar per Entschließungsantrag auffordern, innerhalb eines Jahres Schweitzers Ideen umzusetzen.
Gehrer selbst warnt zwar vor einer „Nivellierung nach unten“, räumt aber Reformbedarf ein. Eine „Weiterentwicklung der guten österreichischen Matura“ ist auch aus ihrer Sicht „in der nächsten Legislaturperiode ein unbedingtes Gebot“.
Die künftigen Arbeitgeber der Maturanten halten das sture Auswendiglernen in den meisten Fällen ohnedies für eine praxisferne Übung. „Die Wirtschaft braucht Leute mit guter Allgemeinbildung, die sich ausdrücken und selbstständig denken können“, sagt der Wiener Personalberater Wolfgang Rohm, der an einer Mittelschule in Wien-Hernals Maturanten bei der Berufswahl
berät: „Es kommt nicht darauf an, Wissen herunterzubeten, sondern darauf, sich die richtigen Informationen besorgen zu können.“
„Die Kinder mit Wissen vollzustopfen bringt wenig“, konstatiert auch Walter Pichler, Rektor einer Fachhochschule in Spittal an der Drau. „Entscheidend ist, ob Information in Wissen und Wissen in Erkenntnis umgewandelt werden kann. Und da hapert es beträchtlich.“
Eine noch nicht veröffentlichte Studie, für die der Wiener Stadtschulrat Universitätsprofessoren aus unterschiedlichen Fachbereichen befragte, bestätigt diese Defizite. Selbstständiges Arbeiten und kritisches Reflektieren würden in der Schule nach wie vor zu wenig gefördert.
Uni-Professoren sind jedoch auch mit der Wissensausstattung der angehenden Studiosi alles andere als zufrieden. Erich Leitner, Bildungsforscher an der Universität Klagenfurt, stellt immer wieder fest, wie mangelhaft die Grundkenntnisse der Erstsemestrigen sind: „Die Matura sollte sicherstellen, dass die Studenten den Lehrveranstaltungen folgen können und wichtige Daten der österreichischen Wirklichkeit kennen. Aber wenn ich frage, was 1848 war, wissen das vielleicht drei Leute im Hörsaal.“ Auch das geografische Wissen lasse oft zu wünschen übrig. Schon bei der Frage, ob es von Lissabon nach Helsinki weiter sei als von Bonn nach Berlin, müssten Leitners Beobachtung nach viele passen.
Vorvergangenes Wochenende versammelten sich die heimischen Schulsprecher in Tulln, um Reformvorschläge für die Matura auszuarbeiten, die dem Schweitzer’ schen Modell frappant ähnelten. Schon am Ende der siebten Klasse sollen die Schüler ein Diplomarbeitsthema wählen, das sie dann im Team ein Jahr lang bearbeiten. Zusätzlich soll jeder Schüler eine eigene Fachbereichsarbeit verfassen. Der dritte Teil, die eigentliche Matura, soll aus drei schriftlichen und zwei mündlichen Prüfungen bestehen, statt wie bisher aus insgesamt sieben Teilen. „Bei der jetzigen Matura, die auf wenige Tage komprimiert ist, stehen die Schüler unter enormem Druck“, moniert Michael Steiner, Bundesvorsitzender der Schulsprecher der allgemein bildenden höheren Schulen. „Bei unserem Modell würde die Belastung verteilt.“ Das Risiko, dass kurzfristige Blackouts einen erfolgreichen Schulabschluss gefährden, wäre damit zumindest verringert.
Brigitta Weninger, Direktorin eines Wiener Montessori-Gymnasiums, betrachtet die herkömmliche Matura als „reine Farce, als eine Show für den Vorsitzenden “. Anders als in den meisten Schulen stehe in ihrer Klasse das selbstständige Arbeiten im Vordergrund. Schon die Jüngsten werden angehalten, sich Lernziele zu setzen und den Stoff selbst einzuteilen. „So liegt die Verantwortung für das Lernen bei den Schülern und nicht bei den Lehrern.“
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