Profil 09 06 02 Teil 2

Reden, reden, reden

Die Regel ist das nicht. Nach wie vor brillieren vor allem jene, die möglichst viel Oberstufenlehrstoff intus haben und ihn auf Kommando nach dem Lehrbuch wiedergeben können. Bundesschulsprecher Jakob Huber, der gerade am Europagymnasium in Linz seine letzten Prüfungen absolviert, erblickt darin keinen Sinn. Huber: „Unsere Lehrer haben uns den Tipp gegeben, zu reden, reden, reden. Geprüft werden nur die Fakten. Außer in Religion. Da geht es auch um Zusammenhänge.“

Dass selbstständiges Denken und Recherchieren in der Schule auf der Strecke bleiben können, führt später im Beruf oder bei der ersten Seminararbeit an der Uni oftmals zu Problemen. Die Alarmglocken sollten viel früher schrillen, meint Elisabeth Rössel-Majdan, Direktorin des Rudolf-Steiner-Oberstufen-Realgymnasiums in Wien-Hietzing. Wenn Schüler fünf bis acht Seiten lange Aufsätze schreiben, die völlig inhaltsleer bleiben, müsse man sich doch fragen: „Traut er oder sie sich nicht, oder ist da etwas verkümmert?“

Wolf Peschl, Direktor einer AHS in der Kundmanngasse, fordert, dass Maturanten „noch stärker als bisher eigene Kompetenz beweisen und die eigene Meinung argumentieren können sollten“.

Mehr Selbstständigkeit

Die letzte größere Änderung der Maturaprüfungsordnung erfolgte 1993. Seit damals haben die Schüler nicht nur mehr Wahlfreiheit bei den Prüfungsfächern, sondern können auch so genannte Fachbereichsarbeiten – Abhandlungen über ein frei zu wählendes Thema – abliefern. Wer sich für diese Option entscheidet, erspart sich eine von vier schriftlichen Maturaprüfungen.

Der Weg zu mehr Selbstständigkeit und ersten Gehversuchen im wissenschaftlichen Arbeiten wurde also längst eingeschlagen. Künftige Maturamodelle, über die sich die Parteien noch zanken, könnten noch weitergehen.

SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Andrea Kuntzl, die in Schweitzers Vorschlag Teile der von ihrer Partei forcierten AHS-Oberstufenreform wiedererkennt, will die freiwillige Fachbereichsarbeit zu einem fixen Bestandteil der künftigen Reifeprüfung machen. Diese würde dann bei der mündlichen Prüfung präsentiert werden. Zusätzlich wünscht sich die SPÖ die Einführung eines
„Kurs- und Modulsystems“. Nach angelsächsischem Vorbild sollen in der siebten und achten Schulstufe die Klassen aufgelöst werden. Die Schüler wählen ihre bevorzugten Fächer für die Matura aus. Die anderen Pflichtfächer können schon in der siebten Klasse abgeschlossen werden.

„Meine Matura würde so aussehen, dass die Schüler ab der siebten Klasse in Gruppen an großen Projekten arbeiten“, erklärt FPÖ-Generalsekretär Schweitzer. Die traditionelle Stundentafel soll den vier Disziplinen Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und Kreatives weichen. Statt einschläferndem Frontalunterricht fordert Schweitzer Projekte, „die selbst Schüler, die normalerweise in der letzten Reihe schlafen, munter machen“.

Schweitzer meint zu wissen, wie man eine Klasse auf Trab bringt. Als Sport- und Geografielehrer an einer Handelsakademie in Oberwart ließ er die Schüler unter anderem einen Müllkataster erstellen, ein Damenvolleyballspiel vermarkten und in der Natur herumliegende Autowracks fotografieren. Ende der achtziger Jahre engagierten sich seine Schützlinge beim Protest gegen eine geplante Sondermülldeponie in Stadt Schlaining. Letzteres erregte nicht nur im Bezirk, sondern sogar in Wien einiges Aufsehen. Der damalige Wirtschaftsminister, Wolfgang Schüssel reiste an, um den lästigen Lehrer zur Räson zu bringen. Ohne Erfolg. Die Mülldeponie wurde nicht gebaut.

Rituelles Erlebnis

Projekte und Fachbereichsarbeiten erfordern von den Unterrichtenden zusätzliches Engagement, kreative Ideen und zeitaufwändige Betreuungen. Leistungen, die das Lehrpersonal abgegolten wünscht. „Die Reformideen sind wunderbar“, sagt die Wiener Englisch- und Geschichteprofessorin Eva Poisel: „Aber zahlen will dafür keiner. Im Gegenteil. Es heißt immer nur, wir sollen sparen.“

„Eine Entstressung der Schüler, wie sie Schweitzer vorschwebt, kostet Geld“, meint auch Helmut Figdar, Wiener Psychoanalytiker am Institut für Erziehungswissenschaften. Oft reichen aber die pädagogischen Fähigkeiten der Lehrer nicht aus, die Schüler für das Lernen zu begeistern. Figdar: „Vor allem an der psychologischen Ausbildung mangelt es vehement.“

Einer Abschaffung der Matura, bloß um die Nerven der Prüflinge zu schonen, kann der Kinderpsychologe wenig abgewinnen. Die Reifeprüfung stelle ein „Erlebnis von rituellem Wert dar, das einen Lebensabschnitt beendet und einen anderen eröffnet“. Allein die Tatsache, dass sich Maturanten noch Jahrzehnte nach der Prüfung zu Klassentreffen verabreden, zeige die Bedeutung des Ereignisses. Am Wiener Theresianum treffen einander beispielsweise alle zwei Monate zehn Absolventen des Maturajahrgangs 1938 zum Plausch. Die Herren sind allesamt über 80 Jahre alt.

Selbst wenn dies den Prüflingen während der Matura so nicht bewusst ist, kann der mit der Reifeprüfung verbundene Stress später auch positiv erlebt werden. „Lehrer, Eltern und Schüler wollen ja auch eine Bestätigung dafür, dass man jahrelang gearbeitet hat“, meint Helmut Skala, Direktor der Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe in Baden. „Das ist wie im Sport. Am Ende will man ein hart erarbeitetes Ergebnis sehen.“

Wie dieses Resultat aussehen soll und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind, darüber wird in Österreich seit Jahrzehnten mit ideologischen Argumenten diskutiert. In den siebziger Jahren kämpfte die SPÖ-Regierung Bruno Kreiskys für einen offenen Zugang zu den allgemein bildenden höheren Schulen. Um auch begabten Kindern aus Arbeiterfamilien in höherem Ausmaß eine bessere Schulbildung zu ermöglichen, wurden Schulbesuch, Schulbücher und die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gratis.

Bis weit in die sechziger Jahre hatten neben den damals noch obligatorischen Aufnahmsprüfungen vor allem die mit dem Besuch eines Gymnasiums verbundenen finanziellen Belastungen verhindert, dass Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien zur Reifeprüfung gelangten. Ab den siebziger Jahren warb die SPÖ für die Idee der „Gesamtschule“. Damit sollte durch eine Zusammenlegung der Hauptschulen und der AHS-Unterstufen größere Chancengleichheit bei den unter 14-Jährigen geschaffen werden. Die ÖVP wetterte vehement gegen „Gleichmacherei“. Da für Schulgesetze im Nationalrat eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, blieb es selbst in der großen Koalition bei zaghaften Reformen.

Oben und unten

Dass schulische Bildung und Erfolg im Berufsleben eng verknüpft sind, dokumentiert eindrücklich die Arbeitslosenstatistik: Von aktuell 207.860 Menschen ohne Beschäftigung verfügt ein beträchtlicher Teil nur über eine Grundschulbildung. Die Europäische Kommission sieht den erfolgreichen Abschluss einer weiterführenden Schule daher zunehmend als „Mindestqualifikation für das Bestehen auf dem Arbeitsmarkt“. Wer keine Matura hat, scheitert oft schon bei den Vorstellungsgesprächen.

21 Prozent der Österreicher über 15 Jahre können laut Statistik Austria ein Maturazeugnis vorweisen. Die Nicht-Besitzenden haben oft mit gravierenden Nachteilen zu kämpfen, wie die deutsche Soziologin Sibylle Tönnies in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt: „Das Abitur schafft eine soziale Trennlinie, die die brüderliche Gemeinschaft der Menschen stört. Sie fährt mit einem einzigen Messerschnitt durch die Gesellschaft und schafft ein klar definiertes Oben und Unten.“

Das wissen natürlich auch die Eltern, die unter anderem deshalb 116 Millionen Euro pro Jahr für Nachhilfeunterricht ausgeben, um ihre Sprösslinge irgendwie bis zur höheren Schulreife zu bringen.

Dass dabei bisweilen auch zu unlauteren Mitteln gegriffen wird, flog im Jahr 1994 auf. Scharlotte Günter, Leiterin der Wiener Maturaschule Nawarski, verkaufte die begehrten Zertifikate an jeden, der ihr dafür rund 5800 Euro auf den Tisch legte. Als prominenteste Schwindlerin fiel die Tochter des damaligen Polizeipräsidenten Günther Bögl auf. Sie hatte ihren Lateinabschluss käuflich erworben, ihr Vater musste daraufhin zurücktreten.

Dagmar Grünberger, 18, will es auf reelle Weise schaffen. Auch wenn ihr das niemand mehr zugetraut hat. Die Lehrer in ihrem ehemaligen Gymnasium hatten ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie „nicht fähig“ sei, die Matura „jemals zu bestehen“. Die Schülerin war verzweifelt: „Man hat mich zur Außenseiterin stigmatisiert. Die privaten Probleme, die ich hatte, haben niemanden interessiert.“ Inzwischen hat Dagmar wieder Mut gefasst. In der Wiener Maturaschule Dr. Roland, in der sie freiwillig einen neuen Anlauf nimmt, hält man von den Fähigkeiten der gescheiterten AHS-Gymnasiastin mehr. Direktor Matthias Roland versprüht – berufsbedingt – Optimismus: „Ich habe in meiner ganzen Laufbahn noch nie einen Schüler kennen gelernt, der die Matura nicht schaffen kann, wenn er das wirklich will.“



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