Frankfurter Rundschau 11 06 02

Der unerschütterliche Begabungsglaube Teil 1

Vordemokratische Bildungsorientierungen sind in Deutschland noch immer wirksam / Von Gero Lenhardt

Ein Teufelskreis aus Leistungsschwäche und permanenter Auslese kennzeichne das deutsche Bildungswesen, konstatiert Gero Lenhardt, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Bildung, Arbeit und gesellschaftliche Entwicklung im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Während hier zu Lande noch immer eine naturalistische Begabungstheorie dominiere, nach der Förderung unnötig ist, orientierten sich die anderen westlichen Demokratien längst am Prinzip universeller Bildungsfähigkeit. Die FR dokumentiert Lenhardts kritische Analyse. Eine längere Fassung steht im Netz unter www.mpib-berlin.mpg.de/dok/full/lenhardt/pisa.pdf

Die Schüler aus Deutschland haben mit ihren Lesekünsten im internationalen Pisa-Leistungsvergleich bekanntlich bescheiden abgeschnitten; in Mathematik und Naturwissenschaften erging es ihnen nicht viel besser. Die leistungsstarken Schüler sind in der Bundesrepublik so tüchtig wie die leistungsstarken im Durchschnitt aller Länder, jedoch sind die schwachen besonders schwach und besonders zahlreich. Die Ursachen dieses Befundes sollen untersucht werden. Dabei ergibt sich: Das schlechte Resultat geht auf vordemokratische Bildungsorientierungen zurück, die in der Bundesrepublik wirksamer geblieben sind als in den anderen westlichen Demokratien.

Einem weitreichenden Konsensus in der Bundesrepublik zufolge ist eine anspruchsvollere Bildung leistungsschwacher Schüler nicht möglich und auch nicht nötig. Sie sei nicht möglich, weil die Einzelnen von Natur aus mit ungleichen und weitgehend bildungsresistenten Begabungen ausgestattet seien. Sie sei nicht nötig, weil sich die natürlichen Grenzen ihrer Bildungsfähigkeit mit den Grenzen des wirtschaftlich-technischen Qualifikationsbedarfs deckten, der letztlich ebenfalls durch die Gesetzmäßigkeiten der Natur determiniert sei.

Der Glaube an Begabung und an Qualifikationsbedarf widerspricht bürgerlichen Bildungsvorstellungen, die sich in allen westlichen Demokratien seit der Reformperiode durchgesetzt haben. Statt der Frage, wie die Schüler an die äußeren Lebensverhältnisse angepasst werden könnten, fragte man jetzt, wie sie die Fähigkeit erwerben könnten, sich die äußeren Lebensverhältnisse anzupassen. Dabei wird unterstellt, dass autonome Bürger auch produktivere Bürger sind. Man ging also von universeller Bildungsfähigkeit aus und man begriff die Gesellschaft als eine normative Ordnung, die Autonomie ermöglicht und verlangt.

Die Bildung soll die Entwicklung der Disziplin unterstützen, die Voraussetzung individueller Unabhängigkeit ist. Deswegen nahm sie wissenschaftlichen Charakter an. Die freie wissenschaftliche und die demokratische Kultur stimmen in ihren grundlegenden Wertnormen überein. Beide verlangen und ermöglichen Autonomie im Umgang mit den eigenen inneren Impulsen und im Umgang mit äußeren Mächten, von denen suggestiver Einfluss ausgehen kann, ebenso Toleranz, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Entscheidungsfähigkeit usw. Man kann sich diese Tugenden in jedem Unterrichtsfach aneignen, sofern die Schule einen freimütigen Umgang zwischen Lehrern und Schülern erlaubt. Dementsprechend veränderte sich mit den Bildungszielen auch die Organisationsstruktur der Schulen. Die Schüler gewannen an Unabhängigkeit. Dieser Entwicklung waren viele kleinere Veränderungen vorausgegangen, und sie ist bis heute nicht
vollendet; aber die 1960/70er Jahre lassen sich als Wendepunkt begreifen.

Glaube an Begabung

Der Glaube an Begabung und Qualifikationsbedarf forderte die Festschreibung unterschiedlicher Bildungsziele und Bildungsmittel und damit unterschiedliche Schulformen. Leistungshomogene Klassen sollten es ermöglichen, pädagogische Interventionen treffsicherer zu zielen. Denn am effizientesten könnten Lehrer entwickeln, was an Begabungen in den Schülern stecke, wenn die Unterrichtssituation standardisiert und unter Kontrolle gebracht sei. Die Homogenisierung der Klassen sollte durch Selektion der Schüler und ihre Verteilung auf unterschiedliche Schulformen erreicht werden.

Lehrer sollten die natürlichen Anlagen ihrer Schüler bedarfsgerecht entwickeln. Dieses Ansinnen hat sie überfordert. Denn Bildung ist immer aktive Aneignung der Kultur und lässt sich den Schülern nicht einprägen. Besonders fühlbar wurde die Überforderung im Umgang mit leistungsschwachen Schülern. Denn die Schwäche der Schüler konnte als pädagogische Schwäche ihrer Lehrer erscheinen und ist ihnen selbst sicher oft so erschienen. Der Glaube an bildbare Begabung, der Selbstzweifel wecken konnte, bot aber auch eine Lösung: Lehrer konnten Leistungsmängel als Ausdruck von Begabungsmängeln erklären, die betreffenden Schüler per Selektion entfernen und ihr berufliches Selbstbild damit außer Gefahr bringen. So begründete der Begabungsglaube zwischen Lehrern und Schülern gegensätzliche Interessen. Selektion, mit der Lehrer ihren Unterricht effektiver machen und ihr Selbstbild verteidigen wollten, bedrohte das Selbstbild und die Zukunft ihrer Schüler. Dieser Gegensatz ging weit über die unvermeidlichen Spannungen im Generationenverhältnis hinaus.

Bürgerliche Einheitsschule

Der Glaube an Begabung und Qualifikationsbedarf wich dem Glauben an universelle Bildungsfähigkeit und an eine offene Gesellschaft. Danach hat jeder Teil an der Mündigkeit, in der alle Menschen übereinstimmen. Zählen soll die allgemein menschliche Bildungsfähigkeit, in der sich alle gleichen, und nicht die tatsächliche Leistung, in der sie sich unterscheiden mögen. Lehrer und Schüler sollen sich an dieser Möglichkeit orientieren und sie damit Wirklichkeit werden lassen. Leistungsversagen und abermaliges Leistungsversagen sollen mit einer neuen Anstrengung beantwortet werden. An den Erfolgsaussichten zu zweifeln erscheint als abwegig. In den Schulen setzte sich also das Leistungsprinzip durch. Es beflügelt mit pädagogischem und demokratischem Optimismus und un-terscheidet sich darin von dem pädagogisch anspruchslosen, aber belastenden Begabungsglauben.

Der Glaube an universelle Bildungsfähigkeit ist eng verwandt mit dem optimistischen Menschenbild, das in den Bürgerrechten enthalten ist. Man kann in der modernen Gesellschaft beruflich, politisch oder familiär versagen und die größten Niederlagen verursachen, aber man kann die Bürgerrechte nicht verlieren. Das bedeutet: Man bleibt mit der Erwartung konfrontiert, eine neue Anstrengung zu unternehmen, und damit zugleich auch mit dem Vertrauen, dieser Erwartung gewachsen zu sein. Dieses Vertrauen gilt bedingungslos, so wie man auch die Bürgerrechte bedingungslos besitzt. Indem die Schule die Erfahrung bedingungsloser Anerkennung vermittelt, bereitet sie die jungen Leute auf ihr Leben als Bürger vor.

Das neue Bildungsverständnis ließ die bürgerliche Einheitsschule entstehen und machte sie zum Standardmodell nationaler Bildungssysteme. Die neue Schulform verbindet Gleichheit mit individueller Unabhängigkeit und zielt auf die gleiche Bildung aller als Individuierung eines jeden. Darin unterscheidet sie sich von den staatssozialistischen Einheitsschulen, die ihren Lehrern und Schülern Unabhängigkeit verweigerten und damit aus Gleichheit Uniformität machten. Der Freiheit stand dort nicht die Gleichheit entgegen, sondern die Behandlung der Schüler als pädagogische Objekte. Sinnfälligen Ausdruck findet die Differenz zwischen den bürgerlichen und staatssozialistischen Einheitsschulen in den Rechten, die die Schüler im Westen erlangten, in der Liberalisierung der Umgangsformen und in der Freiheit der Fächerwahl. Wo es um die Bildung unabhängiger Bürger geht, können die Fächer den Schülern zur Wahl gestellt werden. Denn die Disziplin, die Voraussetzung individueller Unabhängigkeit ist, kann man in der Auseinandersetzung mit jeglichem Gegenstand erwerben. So standen den Schülern der DDR nur ungefähr fünf Prozent des Kanons zur Wahl, denen in der Bundesrepublik ungefähr 20 Prozent und denen in der amerikanischen High School 40 Prozent.

Wie weit die neuen Bildungsvorstellungen vorangekommen sind, zeigt sich in der Durchsetzung der bürgerlichen Einheitsschule. In der Mehrzahl der untersuchten OECD-Länder hat man im Pflichtschulbereich auf schulförmige Differenzierung überhaupt verzichtet. In den anderen wurde die Selektion immer weiter hinausgeschoben. So früh und so radikal wie in der BRD wird nirgendwo sonst selektiert.

Der internationale Blick zeigt: Die Differenzierungen innerhalb einer Schulform zielen auf die Überwindung der Leistungsunterschiede, gehen also von allgemeiner Bildungsfähigkeit aus. Die schulförmige Niveaugliederung schreibt dagegen zusammen mit abgeschotteten Schulkarrieren Unterschiede des Leistungsvermögens fest und lässt damit den Glauben an ungleiche und bildungsresistente Begabung zu einer sozialen Realität werden.

Folgt Teil 2



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