Der unerschütterliche Begabungsglaube Teil 2
Verspätete Schulentwicklung
Das naturalistische Bildungscredo verlor auch in der Bundesrepublik viel von seiner früheren Wirksamkeit. Wo die Hauptschule noch existiert, hat sie sich der weiterführenden Bildung angenähert, indem der Unterricht wissenschaftlichen Charakter annahm und von wissenschaftlich ausgebildeten Fachlehrern erteilt wird. Versuche einer bildungsökonomischen Arbeitskräfteplanung sind vor Gericht und am Widerstand der Eltern und Schüler gescheitert. Eine Rationierung der weiterführenden Bildung gab es lediglich in der DDR, wo die Bürgerrechte nicht galten usw. Das deutsche Bildungswesen folgt der westlichen Schulentwicklung aber nur zögernd. Ausgehend von der Bildungspolitik bis hin zur Schulpraxis der Lehrer und Schüler soll das im Folgenden gezeigt werden.
Man stößt auf naturalistische Bildungsvorstellungen nicht nur bei der CDU/CSU, sondern auch in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und im Wissenschaftsrat. Der Wissenschaftsrat will die Unterscheidung zwischen dem B.A.- und M.A.-Studiengang, die das überkommene Hochschulstudium ablösen soll, zum Mittel der Selektion machen und die Mehrzahl der Studierenden auf das B.A.-Studium beschränken. Der Hochschulverband, die Standesorganisation der Hochschullehrer, fordert eine schärfere Selektion beim Hochschulzugang. Einer vergleichenden Studie zufolge, die die Carnegie Foundation in 13 Ländern durchgeführt hat, achten deutsche Professoren die Fähigkeiten ihrer Studenten geringer als ihre Kollegen in den meisten anderen Ländern. Der Philologenverband, die Standesorganisation der Gymnasiallehrer, engagiert sich für die "Beibehaltung eines begabungsgerecht gegliederten Schulwesens, . . . um Deutschland vor der drohenden Bildungskatastrophe zu bewahren". Mit dem Philologenverband stimmt der Deutsche Lehrerverband, die Vereinigung zahlreicher Lehrerverbände, weitgehend überein.
Der nationale Konsensus über Begabung und Qualifikationsbedarf bleibt keiner der Schulformen äußerlich. Die Funktionsweise der Gesamtschulen ist deswegen derjenigen der mehrgliedrigen Sekundarstufe ähnlich. Die Anwälte der Gesamtschule stritten sich mit denen des mehrgliedrigen Bildungssystems vor allem um die Frage, mit welcher der beiden Schulformen Begabungen treffsicherer diagnostiziert, Begabungsreserven gründlicher ausgeschöpft und der gesellschaftliche Qualifikationsbedarf besser bedient werden könnten. Sie stimmten im naturalistischen Bildungscredo also weitgehend überein.
Leistungsbegriff und Selektion
Das mehrgliedrige Bildungssystem soll dem Leistungsprinzip zur Wirksamkeit
verhelfen; so verlangen es dessen Anwälte. Das tun sie gelegentlich auch schneidig, bringen damit jedoch nur die mutlose Forderung zum Ausdruck, der Bildungsanspruch müsse gegenüber den leistungsschwachen Schülern zurückgenommen werden. An ihren Begabungen ließe sich Substanzielles nicht ändern. Sie seien deswegen einer Schulform mit niedrigeren Leistungsansprüchen zuzuführen. Sie stellen sich also dem Leistungsprinzip entgegen. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Schulkultur, dass der unbegründete anthropologische Pessimismus als besonders realitätstüchtig und smart daherkommt.
Der Begabungsglaube wird von den Lehrern exekutiert. Er legt ihnen nah, die Leistungsschwäche der Schüler mit der Einschränkung ihrer Bildungsmöglichkeiten zu beantworten. Lehrer können sich legitimerweise von schwierigen Schülern trennen, anstatt sich ihrer Bildung mit demokratischem und pädagogischem Optimismus zu widmen. So kommt in der Bundesrepublik eine Selektionspraxis zu Stande, die in den OECD-Ländern nicht ihresgleichen hat:
- In Deutschland werden die Schüler besonders früh getrennt und in unterschiedlichen Schulformen unterrichtet.
- Sie werden so früh wie nirgendwo sonst auf Schulformen mit niedrigerem Leistungsanspruch zurückgestuft.
- Sie werden bei der Einschulung besonders häufig zurückgestellt oder an Sonderschulen verwiesen.
- Sie müssen häufiger als die Schüler irgendeines anderen OECD-Landes eine Klasse wiederholen, obwohl das Sitzenbleiben den Betroffenen nachweislich wenig hilft.
Die Selektion sorgt für die extreme Leistungsungleichheit deutscher Schüler. Denn sie enthält gerade den Schülern Bildungsmöglichkeiten vor, die mit den schulischen Bildungserwartungen die größte Mühe haben. Das sind vor allem die Heranwachsenden aus den unteren Berufs- und Bildungsschichten sowie aus Einwandererfamilien. Indem das Bildungssystem für leistungshomogene Schulen sorgt, sorgt es zugleich für sozial homogene. Anders gesagt, es sorgt für soziale Segregation; das schließt ethnische Segregation ein. Mit seiner Mehrgliedrigkeit segregiert das deutsche Bildungssystem die Schüler sogar stärker als das amerikanische mit seiner Einkommensabhängigkeit. Es bleibt also beträchtlich hinter der Idee moderner Bildung zurück, die auf die Bildung gleicher Bürger zielt.
Die Schüler machen sich den Begabungsglauben auch selbst zu Eigen. Das zeigen internationale Bildungsvergleiche. So wurden Heranwachsende aus Los Angeles, West- und Ostberlin sowie Moskau daraufhin untersucht, wie Misserfolgserlebnisse ihren Glauben an das eigene Leistungsvermögen beeinflussen. Junge Amerikaner, so ergab sich, lassen sich ihr Vertrauen in die eigenen Kräfte durch Misserfolg kaum nehmen. Mehr als alle anderen sind sie davon überzeugt, dass man mit persönlichen Anstrengungen weiterkommt. Westberliner Schüler lassen sich dagegen durch schwache Leistungen eher entmutigen. Ihre Entmutigung ist Kehrseite des Begabungsglaubens, den ihnen Schule und Gesellschaft in Deutschland ansinnen.
Der Begabungsglaube münzt sich in den verschiedenen sozialen Schichten zu unterschiedlichen Reaktionen um. In den oberen erzeugt er Selbstvertrauen und Zuversicht, in den unteren wirkt er entmutigend und lähmend. So treten Kinder aus den oberen sozialen Schichten bei gleich schwacher Leistung eher in eine höhere Schule ein als diejenigen aus den unteren; sie setzen sich auch eher über eine ungünstige Schullaufbahnempfehlung hinweg. Der Glaube an die eigene Begabung steht der individuellen Leistungsbereitschaft aber auch entgegen. Er impliziert so etwas wie einen Geniekult, der in der sprichwörtlichen Figur des "Strebers" oder "fleißigen Lerners" zum Ausdruck kommt. Schüler und selbst Lehrer begegnen den so Stigmatisierten mit Verachtung. Der Begabungs-glaube hat eine weitere Besonderheit: Er schließt nicht aus, die Kinder der anderen als "Flut der Unbegabten" und "Akademikerschwemme" zu definieren, die die Bildungs- und Berufskarriere der eigenen gefährden, und den "Wirtschaftsstandort Deutschland" gleich mit.
Der Begabungsglaube legt den weniger erfolgreichen Schülern ebenfalls Leistungsverweigerung nah. Wer sich seines Begabungsglaubens wegen in einer aussichtslosen Lage sieht, kann auf Anstren-gungen verzichten und auf diese Weise seine schlechten Noten als Resultat eigener Entscheidung und persönlicher Unabhängigkeit darstellen. Er rettet damit sein Gesicht. Diese Reaktion, so muss man unterstellen, ist in Deutschland sehr verbreitet. Denn die deutsche Schulpraxis ragt nicht nur mit dem Begabungsglauben international heraus, sondern auch mit der Produktion von Misserfolg, Kehrseite der Selektion. So lernt ein großer Teil der Schüler in Übereinstimmung mit Schule und Gesellschaft, dass Bildung ihre Sache nicht ist.
Der demokratische Glaube an universelle Bildungsfähigkeit lässt andere Motive entstehen. Er gilt der Möglichkeit des Erfolgs und verlangt deswegen gerade eine Anstrengung zu seiner Realisierung. Er bekräftigt also die Leistungsorientierung. Er lässt zudem die Verallgemeinerung der Bildung als möglich erscheinen und postu-liert, dass die Bildung eines jeden im Interesse aller liegt. Schule und Schüler erfahren dadurch eine mächtige öffentliche Un-terstützung. Man erfährt diesen Bildungsenthusiasmus sehr eindrücklich in den USA. Berichtet man Amerikanern, dass in Deutschland politische Parteien und Lehrerverbände gegen die Expansion der weiterführenden Bildung eintreten, erntet man ungläubiges, ja betretenes Erstaunen. Bildungsfeindlichkeit gilt hier als kleingläubige Absage an die demokratische Utopie einer freien Gesellschaft.
Das deutsche Bildungswesen bewegt sich offenkundig in einem Teufelskreis. Die Selektion erzeugt das Problem, das sie lösen soll, indem sie den schwächeren Schülern Bildungsmöglichkeiten ent-zieht. Ihre Leistungsschwäche wird zum Anlass für zusätzliche Selektion.
Der Pisa-Bericht konstatiert: "Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht so wie in anderen Ländern, die schwachen Schülerinnen und Schüler zu fördern." Der Schulpraxis wird diese Formulierung nur bedingt gerecht. Wo der Glaube an Begabung und Qualifikationsbedarf herrscht, da misslingt die Förderung der schwachen Schüler nicht, sondern gilt als unmöglich und unnötig, ist letztlich also nicht gewollt.
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