Informatik frisst Deutsch

Und was bedeutet das für den geistigen Stoffwechsel unserer Kinder? -
Skeptische Anmerkungen zur digitalen Aufrüstung der österreichischen Schulen
nach dem Motto "Ich bin online, also lerne ich . . ."

Heinz Zangerle*

Unbeirrt von den tiefen Stürzen von E-Commerce & Co befinden sich die
Wanderer der Digitalpädagogik noch immer in einem verbissenen Aufstieg zu
vermeintlichen Gipfeln. PC und Internet gelten weiterhin als pädagogisches
Fünf-Sterne-Kriterium für Schulqualität, und das digitale Aufrüsten in den
Schulen geht munter weiter. Mehr noch - wie eben beschlossen - werden die
neuen Medien ab dem Schuljahr 2004 eine Stunde Deutsch aus dem Lehrplan
verdrängen. Dies, obwohl laut PISA-Studie vierzehn Prozent der
österreichischen Schüler selbst einfachste Texte nicht verstehen können.

Sind wir damit, wie Claus Stoll in Log Out ätzt, "auf dem Weg zu einer
Generation gut funktionierender Legastheniker, für die ein Buch nichts
anderes ist als Druckerschwärze auf eingetrocknetem Holzbrei"?

Schlichte Botschaft

Tatsächlich gibt es hierzulande kaum Diskussionen zu diesem
bildungspolitisch bemerkenswerten Schritt. Auch die Pädagogik überlässt das
Feld dem Populismus mancher Politiker, den Werbestrategen der
Technologiebranche sowie zahlreichen selbst ernannten Mediengurus. Man redet
nicht lang über Sinn und Zweck, man vernetzt. "Ich bin online, also lerne
ich", so lautet die schlichte Botschaft, die in zahllosen Medienbildern
immer wieder aufs Neue verbreitet wird.

Und der Gipfel der schönen neuen Welt des Lernens: Kinder werden in der
halben Zeit und bei einem Drittel weniger Kosten um 30 Prozent mehr lernen!
Die Verwandlung lustloser Schüler in neugierige Forscher ist quasi
programmiert. Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbandes, sieht
schon die Vision einer "Pflanzschule für aufgescheuchte pädagogische
Multimediafreaks" aufziehen. Und weh dem, der sich den Kommandotönen der
IT-Konzerne verweigert! Schnell sieht man sich als Innovationsverweigerer,
Technikfeind, Ewiggestriger, Modernitätsbremser, Kulturpessimist u. ä.
denunziert, wenn man sich erdreistet, den pädagogischen Nutzen der neuen
Medien auch nur im geringsten in Zweifel zu ziehen.

Eines der Argumente der Befürworter möglichst frühen Einsatzes von PC und
Internet ist der Druck der Eltern auf die Schule. Im grassierenden
Internetgieber fürchten sie, ihre Kinder könnten ohne PC-Erfahrung das
Rennen um gute Jobs verlieren.

Dabei sind in den meisten Berufen überhaupt keine Computerkenntnisse im
engeren Sinn notwendig. Nicht einmal der Pilot eines großen Flugzeuges muss
Computerexperte sein, um den Autopiloten zu "programmieren", behauptet kein
Geringerer als Joseph Weizenbaum, Pionier der Computertechnik vom
Massachusetts Institute of Technology: "Alles, was man außerhalb der
Wissenschaft und dem Ingenieursberufen braucht, lernen Kinder ohnedies von
selbst von Gleichaltrigen, oder es ist in kürzester Zeit nachzulernen."
Zudem wird die Bedienung von PCs in wenigen Jahren um vieles einfacher sein.

Auch die Ergebnisse neuester Studien zum Einsatz von Computern an 800
Schulen in Großbritannien sind nicht dazu angetan, den Protagonisten der
Laptop-statt-Schulranzen-Slogans weiterhin bedingungslos das Feld zu
überlassen. Es stellte sich nämlich heraus, dass eine gute
Schulbuchausstattung zu deutlich besseren Ergebnissen führt als eine gute
IT-Ausstattung.

Zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt der Gründer der Tele-Akademie der
Fachhochschule Furtwangen, Michael Kerres, nach umfangreichen Studien zur
Lehr- und Lerneffizienz "multimedialer und telemedialer Lernumgebungen"
(Buchtitel): Die Effektivität der neuen gegenüber den alten Medien oder
gegenüber konventionellem Unterricht ist nicht höher! Keine besondere
Empfehlung also für das hochgejubelte "Neue Lernen" - was im Übrigen auch
meine eigenen kinderpsychologischen Erfahrungen bestätigen: Lernprogramme
auf CD-Roms oder Disketten sind vielfach nichts anderes als eine Fortsetzung
des guten alten Schulbuchs, nur animierter und bunter.

Animierter Fahrstuhl

Das mediale Edutainment scheint ganz offensichtlich von der (irrigen)
Vorstellung getrieben, Kinder könnten nur durch grellen Medienspektakel zum
Lernen gebracht werden. In der Folge geht der Aufmerksamkeitsfluss des
Kindes permanent nach außen, während konventionelles Lernen mit Schreiben,
Lesen, Üben Aufmerksamkeit nach innen verlangt und trainiert.

Medienlernen ist weitgehend typisches Kurzziellernen mit meist geringen
selbstreflexiven und selbststrukturierenden Anteilen. Beim E-Learning,
kritisiert Hendrick Kafsack treffend, macht der Lernende nicht viel mehr,
als passiv wie "in einem animierten Fahrstuhl durch das Lerngebäude zu fahren".

Computer und Internet sind nur Werkzeuge. Sie gehören in die Hand des
Lehrers. Falsch eingesetzt sind sie gigantische Fresser menschlicher Zeit,
Energie und Beziehungen. Die euphorischen Erwartungen von einer "Revolution
des Lernens" werden sich nicht erfüllen. Nach einem Rausch hektischer
Bemühungen um die Digitalisierung der Schule wird sich schon bald
Ernüchterung einstellen.

*Der Autor ist Psychologe u. Psychotherapeut in Innsbruck.

© DER STANDARD, 22./23. Juni 2002


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