Subject: Re: LF: Re: STANDARD - Wochenendausgabe 2/3 Mehrheit
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Koll. Friebel,
leider kann ich ihre Argumentation nicht anerkennen, weil sie in der Sache unrichtig ist, oder Sie haben wirklich - wie Sie schreiben - nur e i n e n (unscharfen) Blick in die Parteiprogramme geworfen
Damit Sie es leichter nachvollziehen können, finden Sie unter http://www.spoe.at/visit/bildung.htm
Bezüglich der "gemeinsamen Mittelschule" halten die SPÖ-Bildungspolitiker ausdrücklich fest, daß sie keine "Eintopfschule" anstreben. Es gehe vielmehr darum, die überholte und unwirtschaftliche Konkurrenz im Mittelstufenbereich, die zu "pädagogisch bedenklichen Verzerrungen der Schultypenzuteilung geführt hat", zu beseitigen. Derzeit besuchen in Ballungszentren die überwältigende Mehrheit die Unterstufe einer AHS, eine kleine Minderheit verbleibt an Haupt- schulen und wird im Unterschied zu den AHS-Besuchern von Nicht-Akademikern ausgebildet. In den ländlichen Regionen ist dieses Verhältnis umgekehrt. Eine gemein- same Mittelschule hilft, fragwürdige, weil viel zu frühzeitig getroffene Entscheidungen über die Bildungslaufbahn zu vermeiden; sie vermeidet die frühzeitige Trennung der Jugendlichen "in einer sozial und emotional sensiblen Lebensphase". Im Gegenzug ermöglicht sie durch weitgehende Differenzierung und Individualisierung der Lern- prozesse sowohl eine gezielte Förderung unterschiedlicher Begabungen als auch die Integration und Betreuung behinderter Kinder. Außerdem stellt die gemeinsame Mittelschule "die sowohl pädagogisch als bildungsökonomisch wirkungsvollste Form einer wohnortnahen Schulorganisation dar", so hält es das SPÖ-Bildungsprogramm
fest. (Zitat Ende, Text vom Okt. 1998)
Wie Sie unschwer erkennen können, steht hier auf der einen Seite die Ablehnung irgendeiner Form von "Eintopfschule" (wie auch immer sie benamst werden soll), und ein Erkennen der regionalen Unterschiede, des beträchtlichen Unterschiedes im Zulauf je nach Ballungszentrum oder ländliche Region. Im Sinne dieses Bildungsprogrammes müsste es möglich sein, zu vernünftigen Lösungen zwischen Bund und Ländern zu kommen, mehr Vielfalt statt Eintopf an jedem Schulstandort zu bieten, ja sogar die Vorstellung von Pflichtschule und AHS unter einem Dach ist für mich keine zu radikale Vorstellung. Nur die 40jährige Praxis mit der 2/3- Mehrheit hat stets jede weitere Schulreform verhindert.
Ich stelle mir vor, dass das alte Pflichtschulmodell der Leistungsdifferenzierung in unserer Zeit nicht mehr zukunftsfähig ist. Vielmehr sehe ich die Trennlinie zwischen AHS- und APS-Schüler in etwa dort, wo es (natürlich altersgemäß) darum gehen soll, Wissen auch eigenständig zu erwerben, zu bearbeiten und auch nur mit geringer Hilfe zu herzeigbaren, präsentierbaren Ergebnissen zu kommen. Es kann nicht darum gehen, die Matura so einfach zu machen, dass irgendwelche fremde Texte bloß auf Folien kopiert und auf OH-Projektor gelegt werden, um dann stupid heruntergelesen zu werden. Das wäre nicht meine Vorstellung von einer Reform der AHS-Ausbildung!
Es wird Sie wohl kaum überraschen, dass ich ihre Frage nach der Wieder- einführung der Aufnahmeprüfung mit einem klaren Nein beantworte. Wer etwas lernen will, der soll durch unser Bildungssystem daran nicht gehindert werden, weder durch soziale oder regionale Benachteiligung. Daher für freie Schulbücher, keine Kostenbeteiligung bei Nachmittagsbetreuung usw., die bestmögliche Schule in Wohnortnähe, wie auch immer das zu realisieren sein wird. Am Anfang muss immer die Utopie stehen, damit dies von der Politik endlich mal als Herausforderung erkannt wird.
Wichtig ist mir auch (und diesen Gedanken haben Sie möglicherweise falsch verstanden), dass nicht SchülerInnen von einer Schullaufbahn bis zur Matura ferngehalten werden, nur weil sie legasthen sind, weil sie Teilleistungsschwächen aufweisen, und wir (und verzeihen Sie mir, wenn ich sage, dass NÖ darin noch ein Entwicklungsland ist!) nicht in der Lage sind an diese SchülerInnen durch Förderung, durch pädagogische und psychologische Hilfestellung, durch Lerntraining und Lernmotivation heranzukommen.
In Abwandlung eines altbekannten Spruches möchte ich Ihnen folgendes zu bedenken geben und um Zustimmung werben:
Österreich ist nicht reich genug, um die Talente unserer Schüler ungenützt
verkommen zu lassen.
Und ich bitte Sie mir zu sagen, ob Sie diese meine Einstellung für so schlimm halten, dass ich mit einer solchen das österreichische Schulsystem ruinieren könnte.
mit freundlichen Grüßen
Günter Wittek
----- Original Message -----
From: Peter Friebel
To: Lehrerforum
Sent: Sunday, June 23, 2002 7:14 PM
Subject: Re: LF: Re: STANDARD - Wochenendausgabe 2/3 Mehrheit
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Günter Wittek schrieb:
> ...
> ich finde es schon amüsant, wie sie sich von ihren Gesamtschul-Ängsten
> treiben lassen ...
Dass es sich dabei nicht um unbegründete Ängste handelt, zeigt wohl ein Blick in die Programme von SPÖ und Grünen: Beide fordern die Gesamtschule. Falls sie nach der nächsten Wahl die Mehrheit haben sollten, werden wir die 2/3-Hürde dringend brauchen, damit unser Schulsystem nicht ruiniert wird. (Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die FPÖ dabei ein verlässlicher Partner ist, aber solange mit einer Gesamtschule kaum Wählerstimmen zu gewinnen sind, besteht immerhin die Hoffnung darauf.)
> ... und dabei übersehen, dass es faktisch die der VP nahe- stehenden
> Landesregierungen / Landesschulräte sind, die in manch ländlichen
> Regionen den Schülern gar nicht die Möglichkeit zum Besuch einer AHS
> geben. Oder wollen Sie behaupten, dass die Schüler im ländlichen Raum
> um so viel weniger intelligent sind, dass 100 Prozent dort die
> Hauptschule besuchen? Der wahre Grund ist einfach der, dass das
> Bildungsangebot mangelhaft ist, der Besuch einer AHS - auch schon vor
> der Einstellung der Postbusse - mit nicht zumutbaren Hindernissen
> verbunden ist, dass dank dieser Schulpolitik die Haupt- schule zur
> Gesamtschule geworden ist.
Ich stimme Ihnen voll zu, dass das Bildungsangebot in Gegenden, in denen es keine AHS gibt, unzureichend ist und dort eine AHS (ich meine damit eine AHS mit Unter- und Oberstufe) errichtet werden sollte. Zum Glück gibt es nur mehr sehr wenige solche Regionen. Da ich mich nur in NÖ wirklich auskenne, beschränke ich mich jetzt auf NÖ: Hier gibt es in jedem Bezirk eine oder mehrere AHS, und von jedem Ort aus kann man eine AHS in vertretbarer Zeit erreichen (obwohl ich nicht leugnen möchte, dass manche, die in sehr abgelegenen Dörfern wohnen, dabei beträchtliche Fahrzeiten in Kauf nehmen müssen).
> ... Ich habe gerade in den letzten Tagen wieder von Eltern gehört, wie
> VP-Gemeinderäte für den Besuch der örtlichen Hauptschule geworben
> haben, gleichzeitig die Notwendigkeit zum AHS-Besuch in Abrede
> stellten und mit wirklich interessanten, gemeindemitfinanzierten
> Zusatzan- geboten lockten. Offensichtlich ist es politischer Wille der
> Gemeinde, alle Gemeindekinder in der eigenen Schule zu behalten.
Es sind wohl nicht nur VP-Gemeinderäte, sondern Gemeinderäte aller Fraktionen, die vor allem in kleineren Orten gerne möglichst viele Schüler in der Hauptschule hätten, weil die Gemeinde ja Schulerhalter der Pflichtschulen ist. Das ändert aber nichts daran, dass auch Schüler in die AHS gehen (außer in den wenigen Regionen - siehe oben - wo es keine gibt).
> ... Was uns abgeht, sind einigermaßen objektivierbare Maßstäbe, unter
> welchen Voraussetzungen ein Kind eine AHS oder eine Pflichtschule
> besuchen soll. Das gegenwärtige System ist höchst verlogen. Ich gehe
> davon aus, dass die Kapazität einer Schule der Maßstab ist, und
> demnach wird versucht die Klassen voll zu bekommen.
Heißt das etwa, dass Sie gerne Aufnahmsprüfungen für die 1. Klasse AHS einführen würden?
> In meinen "Fantasien von übermorgen" stelle ich mir vor, dass in die
> AHS diejenigen gehen, die über das Schulpflichtalter hinaus auch
> lernen wollen, die überdurchschnittlich motiviert sind und Leistungen
> gerne erbringen wollen.
Das wäre wunderbar. In der Praxis brauchen wir aber wohl auch Kriterien, die überprüfbar sind.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Friebel
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