Frankfurter Rundschau 26 06 02

Pisa-E zeigt ein aufregend neues Bild unserer Schulen (Teil 1)

Die Gegenüberstellung von anspruchsvoller Unions-Erziehung und SPD-Kuschelpädagogik entbehrt jeder Grundlage / Eine differenzierte Analyse von Klaus Klemm

Viele diskutieren jetzt aufgeregt über die Schulleistungsstudie Pisa-E zum innerdeutschen Bundesländer-Vergleich. Nur wenige haben sie aber gelesen, denn erst gestern wurde sie offiziell vorgelegt. Klaus Klemm, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Essen, hat das Papier studiert und seine Schlussfolgerungen daraus gezogen, die wir im Wortlaut dokumentieren.

Die international vergleichende Pisa-Studie, die im Dezember 2001 vorgelegt wurde, konnte in Deutschland eine Bildungsdebatte auslösen, die - was Ernsthaftigkeit, Differenziertheit und Reichweite angeht - überrascht hat. Erstmals nach vielen Jahren begann sich die Einsicht durchzusetzen, dass das deutsche Bildungssystem im hohen Maße erneuerungsbedürftig ist. Die finanzielle Ausstattung, die inhaltlichen Standards, die Art und Weise ihrer Überprüfung und hier und da sogar die strukturelle Verfasstheit des gegliederten Systems wurden zur Diskussion gestellt.

Wer daraufhin die Erwartung hegte, nach der Vorlage der innerdeutschen Vergleichsuntersuchung - Pisa-E - gäbe es eine Chance für die Fortführung einer sach- und zielorientierten Debatte und für die Einleitung erster Reformschritte, verabredet in der Kultusministerkonferenz (KMK) und umgesetzt unter der Hoheit der Bundesländer, musste in den letzten Tagen
feststellen: Die Hoffnung trog.

Zeitgleich mit der Verbreitung erster Pisa-Ergebnisse durch Nachrichtenagenturen ließen Ministerpräsidenten aus dem Süden der Republik verlauten, Pisa-E habe nun eindeutig bewiesen, dass unionsgeführte Länder die bessere Schulpolitik betrieben hätten, eben schulpolitisch kompetenter seien. Fast ebenso schnell verkündeten Ministerpräsidenten aus sozialdemokratisch regierten Ländern, ebenso in Unkenntnis der Pisa-E-Studie selbst, neue Schritte. So war schon Ende der vergangenen Woche aus Niedersachsen zu hören, dass nun das Zentralabitur kommen müsse. Dabei hätte ein Blick in den Pisa-E-Text, hätte die Reform des Abiturs auch nur drei weitere Tage Zeit gehabt, gezeigt: Unter den erstplatzierten sieben Ländern, deren Leseverständnis-Ergebnisse so dicht beieinander liegen, dass Rangunterschiede zufällig sind, befinden sich vier Länder, die nicht zentral prüfen.

Dies wie die wirre Hektik der vergangenen Tage zeigen: In Zeiten von Wahlkämpfen sind gründliche Analysen zwar nicht gefragt, gleichwohl aber erforderlich. Denn obwohl die jetzt vorgestellte etwa zweihundertfünfzig Seiten umfassende Veröffentlichung nur eine allererste Auswertung des reichen Materials der ersten innerdeutschen Studie zu Schülerleistungen im Bundesländervergleich darstellt, zeichnet sie bereits ein differenziertes und an manchen Stellen aufregend neues Bild unserer Schulen. Nach einer knappen Skizzierung der Gesamtergebnisse - knapp, da diese Ergebnisse seit Anfang der Woche an vielen Stellen, auch in dieser Zeitung, breit referiert worden sind - sollen im Folgenden zwei wichtige Ausschnitte dieses Bildes nachgezeichnet werden, zwei Ausschnitte, die geeignet sind, fest gefügte Klischees in Frage zu stellen. In den Blick sollen zunächst die Leistungen der Neuntklässler der Gymnasien und dann die aller Neuntklässler, unabhängig von den Schulen, die sie besuchen, genommen werden.

1.

Merkmale der Studie

Zuvor müssen einige Merkmale der Pisa-E-Untersuchung berichtet werden. Die Studie knüpft an die im Dezember 2001 vorgelegte internationale Pisa-Erhebung an. Untersucht wurden in Pisa-E wie auch in der internationalen Studie die drei Bereiche Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung. Um das Ziel von Pisa-E, einem Vergleich der Schülerleistungen der einzelnen Bundesländer, zu erreichen, wurde die Stichprobe auf etwa 48 000 Teilnehmer erweitert. Für die differenzierte Interpretation der drei großen untersuchten Kompetenzbereiche wurden begleitend Merkmale des familiären und institutionellen Kontextes sowie individuelle Lernvoraussetzungen erhoben.

Zur Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Befunde wird international erwartet, dass sich mindestens 80 % der in den Schulen gewählten Stichprobe der Schüler und Schülerinnen an der Untersuchung beteiligen. Dieser Grenzwert wurde in der Pisa-E-Untersuchung im Falle der Länder Hamburg und Berlin unterschritten. Diese Länder schieden folglich aus der Auswertung aus. Lediglich für die Teilgruppe der Gymnasien lagen die Beteiligungsquoten in diesen beiden Stadtstaaten oberhalb von 80 %, so dass in der Auswertung die Ergebnisse der Gymnasien auch für Berlin und Hamburg mitgeteilt werden.

2.

Zentrale Befunde im Überblick

Wenn man die Gruppe der 14 bzw. (beim Gymnasialbereich) der 16 deutschen Länder in drei Teilgruppen unterteilt, so finden sich in allen drei Kompetenzbereichen die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen jeweils auf den ersten drei Plätzen. Die beiden weiteren Plätze des oberen Drittels nehmen Rheinland-Pfalz und das Saarland (Leseverständnis), Thüringen und Schleswig-Holstein (Mathematik) bzw. Thüringen und Rheinland-Pfalz
(Naturwissenschaften) ein.

Im unteren Drittel (auf den Plätzen 11 bis 14) finden sich immer Brandenburg, Bremen und Sachsen-Anhalt, beim Leseverständnis zusätzlich Mecklenburg-Vorpommern und in Mathematik sowie Naturwissenschaften jeweils Niedersachsen. Die übrigen Länder liegen auf wechselnden Positionen im mittleren Drittel der deutschen Länder. Die Spannweite zwischen dem stärksten Land (immer Bayern) und dem schwächsten Land (immer Bremen) ist mit Testpunkten zwischen 53 und 64 beachtlich.





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