Pisa-E zeigt ein aufregend neues Bild unserer Schulen (Teil 2)
3.
Neuntklässler in Gymnasien
Das bisher gezeichnete Bild ändert sich grundlegend, wenn mit dem Gymnasium diejenige Schule in das Blickfeld genommen wird, die durch die Vorauswahl ihrer Schülerschaft nach Klasse 4 oder 6 eine Population unterrichtet, die für schulisches Lernen aus ihrem sozialen und ethnischen Umfeld heraus die günstigsten Voraussetzungen mitbringt: Im oberen Drittel der 16 Länder (hier nehmen Berlin und Hamburg teil) befinden sich beim Leseverständnis Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Im Bereich der Mathematik ergibt sich die Reihenfolge Bayern, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg und Sachsen. Im Bereich der Naturwissenschaft ist Schleswig-Holstein Spitzenreiter, gefolgt von Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Niedersachsen. Unter den letzten fünf finden sich immer Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Bremen.
Bei diesen Werten ist besonders bemerkenswert, dass es bei den im Leseverständnis erzielten Leistungen (nur für diesen Bereich wurde dies
untersucht) unter den ersten sieben Bundesländern Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen überhaupt keine signifikanten Unterschiede gibt. Die beobachteten Unterschiede sind zufällig, nicht systematisch.
Das damit entstehende Bild einer dicht beieinander liegenden Leistungsfähigkeit zumindest der ersten sieben Bundesländer (darunter vier sozialdemokratisch regierte) verschöbe sich noch einmal, wenn man die Unterschiede der Bildungsbeteiligung berücksichtigen würde: Während in Hessen 31,4 %, in Nordrhein-Westfalen 30,0 % und in Hamburg 31,8 % sowie in Berlin 33,8 % eines Altersjahrgangs Gymnasien besuchen, tun dies in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und auch in Bayern nur etwa 26 %.
Zur Bedeutung derartiger Unterschiede formulieren die Autoren der
Pisa-E-Studie: "Zwischen dem Schüleranteil auf Gymnasien und der mittleren Leseleistung besteht tendenziell ein Zusammenhang." Wäre eine Korrektur der Testwerte bei Pisa-E unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bildungsbeteiligung erfolgt, was (z. T. durch die gleichen Autoren) in der Oberstufen-TIMS-Studie vorgeführt wurde, würde sich bei der Auswertung der gymnasialen Befunde das Bild in der Spitzengruppe der Länder zu Gunsten von Ländern wie Hessen, Nordrhein-Westfalen und auch Baden-Württemberg verschieben. Auch die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen würden dabei vorrücken.
Angesichts der Tatsache, dass ein Land wie Bayern mit seiner im Vergleich zu Baden-Württemberg oder auch Nordrhein-Westfalen eher niedrigen Bildungsbeteiligung seine gymnasialen Schüler und Schülerinnen nicht signifikant (also mehr als zufällig) besser fördert, ist es bemerkenswert, dass in Bayern der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Gymnasialbesuch besonders eng ist. Das Kind von Eltern aus der obersten sozialen Schicht - gemessen an der international vereinbarten Klassifizierung - hat in Bayern eine 10,5-mal höhere Chance als das Kind aus einer Facharbeiterfamilie, ein Gymnasium zu besuchen. Die geringsten sozial bedingten Unterschiede bei der Chance auf einen Gymnasialbesuch finden wir in den neuen Bundesländern. In den westlichen Bundesländern ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Gymnasialbesuch in Baden-Württemberg, im Saarland und in Nordrhein-Westfalen am geringsten. In diesen Ländern haben Kinder aus der obersten Schicht gegenüber denen aus Facharbeiterfamilien eine um 5,8- bzw. 6,0- bzw. 6,5-mal höhere Gymnasialchance.
Bei der Stärke des Zusammenhangs zwischen der sozialen Herkunft und den Erfolgen im Bildungssystem, die in Deutschland - wie uns die internationale Pisa-Studie gezeigt hat - enger als überall in der Welt ist, bieten die deutschen Bundesländer beim Gymnasialbesuch ein sehr unterschiedliches Bild.
Insgesamt zeigt die Gymnasialauswertung, dass in der Gruppe der eher leistungsstärkeren Schüler und Schülerinnen das viel zitierte Süd-Nord-Gefälle nicht existiert. Langjährig sozialdemokratisch geführte Länder sind bei der Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler so engagiert und erfolgreich wie unionsgeführte Länder. Des Weiteren zeigt die Analyse der Befunde, dass sich die schon im Zusammenhang der TIMS-Oberstufenstudie gemachte Beobachtung bestätigt: Zentrale Abiturprüfungen sind, was die Qualitätssicherung angeht, nicht erfolgreicher als dezentrale Prüfungsmodalitäten.
So finden wir in allen drei Bereichen jeweils ein Land mit und eines ohne zentrale Abiturprüfungen auf den ersten beiden Plätzen (Leseverständnis und Mathematik jeweils Bayern vor Schleswig-Holstein, Naturwissenschaft: Schleswig-Holstein vor Baden-Württemberg).
Offensichtlich gelingt es durch die in der KMK vereinbarten Einheitlichen Prüfungsanforderungen und durch die ebenfalls in der KMK verabredeten Mindestanforderungen an das Unterrichtsvolumen, das bis zum Abitur zu erteilen ist, in der Mehrheit der Bundesländer, ganz gleich, wer sie regiert, vergleichbare Standards zu sichern. Schließlich bestätigt die Analyse der Befunde zum Gymnasium einen aus der internationalen Studie vertrauten Sachverhalt: In Ländern, in denen eine große Anzahl Jugendlicher einen hohen Schulabschluss erreicht, schwächt sich der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungskarriere eines Kindes ab; und trotzdem werden die Schulleistungen insgesamt keineswegs schlechter.
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