Pisa-E zeigt ein aufregend neues Bild unserer Schulen (Teil 3)


4.

Neuntklässler mit und ohne Migrationshintergrund

Die internationale Pisa-Studie hatte gezeigt, dass der deutsche Durchschnittswert von 484 Testpunkten beim Leseverständnis auf 495 Punkte ansteigt, wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht einbezogen werden. Diese insgesamt eher geringe Differenz von 11 Testpunkten ist aber doch so gewichtig, dass sie im innerdeutschen Vergleich bedeutsam wird. Dies belegt eine Lektüre der entsprechenden Befunde der Pisa-E-Studie. Dort wurde, wie schon in der internationalen Untersuchung, davon abgegangen, die Frage des Migrationshintergrundes über den Besitz eines deutschen Passes zu definieren. Stattdessen wurde erfragt, ob ein Elternteil oder ob beide Eltern im Ausland geboren sind. In diesen Fällen wurde ein Migrationshintergrund angenommen. Immer da, wo beide Eltern in Deutschland geboren waren, wurde unterstellt, dass kein Migrationshintergrund besteht.

Bei dieser Definition, die eingebürgerte Migranten und Rückkehrer aus ehemals deutsch besiedelten Gebieten einbezieht, ergeben sich für die Bundesländer mit hohen Migrantenanteilen die folgenden Werte: Hessen hat mit 32,7 % die höchsten Anteile von 15-Jährigen mit Migrationsgeschichte, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 32,2 %, von Baden-Württemberg mit 28,8 % und Rheinland-Pfalz mit 25,3 %. Bayern liegt mit seinem Anteil von 22,4 % weit hinter den "Spitzenländern".

Dieses Bild verschärft sich noch einmal, wenn man einbezieht, dass sich in Bayern die ohnedies geringeren Anteile der Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus Jugendlichen zusammensetzen, bei denen "nur" zwei Drittel Eltern haben, die beide im Ausland geboren wurden. In Hessen und Nordrhein-Westfalen sind dies mit je drei Vierteln deutlich mehr. Auch gilt, dass in Bayern die Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich seltener aus der Türkei und aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion kommen, als dies für die entsprechenden Jugendlichen in Hessen und in Nordrhein-Westfalen gilt.

Dies sind aber die Herkunftsgebiete, deren Jugendliche - wie wir aus der internationalen Pisa-Studie bereits wissen - in deutschen Schulen besondere Schwierigkeiten haben.

Angesichts dieser zwischen den Bundesländern so unterschiedlichen Anteile von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und mit Blick auf die zudem länderspezifisch sehr unterschiedliche Zusammensetzung dieses Bevölkerungsteils kann festgestellt werden, dass die einzelnen Bundesländer in sehr unterschiedlichem Umfang gefordert sind, wenn es um Integrationsleistungen geht. Es erscheint daher gerechtfertigt, die Schülerleistungen der Neuntklässler, die keinen Migrationshintergrund haben, gesondert zu betrachten.

Dabei zeigt sich, dass beim Leseverständnis im oberen Leistungsdrittel nach Bayern und Baden-Württemberg Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen folgen. Länder wie Sachsen und Thüringen, die beim Test der Gesamtpopulation regelmäßig im vorderen Bereich liegen, rutschen auf den 6. bzw. 10. Platz ab, wenn nur noch Jugendliche ohne Migrationshintergrund betrachtet werden.

Auch im Bereich der Mathematik verschieben sich die Plätze: Neben Bayern und Baden-Württemberg bilden Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein das obere Drittel, Thüringen landet hier auf einem 10. Platz. In Naturwissenschaften schließlich finden wir Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein im oberen Drittel.

Diese Befunde belegen zweierlei: Zum einen gelingt es Ländern mit hohen Migrantenanteilen, ihre Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu Schulleistungen zu führen, die gleichauf oder höher als die der Länder liegen, in denen weniger oder nahezu keine Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund Schulen besuchen. Die These, dass Kinder mit Migrationshintergrund die ohne diesen Hintergrund am Lernen hinderten, kann nicht aufrechterhalten werden.

Zum anderen zeigt die Studie, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund schwächere Schulleistungen erbringen. Schließlich erin nert dieser Befund noch einmal daran, dass in dem gegliederten Schulsystem Deutschlands die Integrationsleistung, die dem Schulsystem abverlangt wird, im Wesentlichen von den Schulen zu erbringen ist, die in der Hierarchie des deutschen Systems "unten" stehen - also in erster Linie von den Hauptschulen. Sie sind besonders gefordert, sie stellen die anderen Schulformen (am wenigsten die Gesamtschulen) von der Integrationsleistung frei.

5.

Ein erstes Resümee

Bei einer differenzierenden Beschäftigung mit den wesentlichen Befunden von Pisa-E fallen die folgenden Aspekte besonders auf:

- Die Dominanz der unionsgeführten Länder zerbröselt, wenn berücksichtigt wird, dass die sozialen, kulturellen und migrationsspezifischen Ausgangslagen von Land zu Land stark differieren.

- Die sozialdemokratisch geführten Länder haben kein Problem bei der Förderung der leistungsstärkeren Gymnasiasten. Selbst bei Vernachlässigung der unterschiedlichen Beteiligungswerte am Gymnasium finden sich keine signifikanten Leistungsunterschiede im Bereich der oberen Hälfte der Länder. Die Gegenüberstellung einer (Unions-)Pädagogik, die hohe Leistungsanforderungen stelle, und einer (SPD-)Kuschelpädagogik, die Lernen verhindere, entbehrt jeder Grundlage.

- Einige Länder, überwiegend sozialdemokratisch geprägte, aber auch Baden-Württemberg, sind bei der Schulbildung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund besonders gefordert. Das Leistungsbild ihrer Schulen ist dadurch, dass die Förderung der Kinder mit Migrationshintergrund nirgendwo in Deutschland befriedigend gelingt, mehr als in anderen Ländern, insbesondere mehr als in den neuen Bundesländern und in Bayern, geprägt.

- Die insgesamt niedrige Bildungsbeteiligung Bayerns, die sich vor allem bei der Abiturquote mit etwa 20 % gegenüber Ländern wie Hessen mit etwa 30 % niederschlägt, ist verbunden mit der in Deutschland höchsten sozialen Selektivität.

Die Analyse der Befunde zu Pisa-E darf insgesamt nicht vergessen machen, dass der innerdeutsche Streit ein Streit darum ist, wer in der zweiten Liga die ersten Plätze einnimmt: Das bei der Gesamtauswertung aller 15-Jährigen in den drei Kompetenzbereichen jeweils führende Bayern liegt im Leseverständnis unter den 30 nichtdeutschen Staaten der Pisa-Erhebung auf Platz 10, in Mathematik auf Platz 11 und in Naturwissenschaften auf Platz 12.

Alle deutschen Bundesländer bedürfen großer Anstrengungen, um international an die Spitzengruppe anzuschließen. Dafür kann eine gründliche und gelassene Analyse der Pisa-E-Befunde wertvolle Hilfen bieten. Vielleicht kommt nach dem 22. September die Zeit dafür!



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