Ein durchaus interessanter Text aus dem PRESSE-Spectrum vom Samstag 29 06 02

http://www.diepresse.com/default.asp?channel=sp&ressort=S100&id=295078

Was wir noch lernen müssen

Eigentlich haben wir gute Lehrer, aber ihre Ausbildung . . . Eigentlich haben wir guten Unterricht, aber die Lehrpläne . . . Eigentlich geben wir viel Geld für Bildung aus, aber die Klassenschülerzahlen . . . Eigentlich ist alles bestens, aber besser wär', wenn's anders wär'. Zum Schulschluß: eine Exkursion an der Bildungsbasis.

Von Wolfgang Freitag
(...)
Während mittlerweile bei unserem Nachbarn im Nordwesten nahezu kein Tag vergeht, an dem nicht neue schaurige Details der "Bildungskatastrophe" an die Öffentlichkeit dringen, als sei mit einem "Pisa"-Schlag ganz Deutschland in kollektiver Umnachtung versunken, sonnt man sich hierzulande noch immer wohlig im Glanz eines "Pisa"-Rangs im oberen Drittel. Wen stört es schon, daß es einer am untersten Ende desselben ist, so um Platz zehn herum. (...) Günter Haider, Leiter des heimischen "Pisa"-Projektzentrums, sieht die Dinge ein wenig differenzierter: "Wir geben im weltweiten Vergleich viel Geld für Bildung aus, wir sind Weltmeister im Schulsitzen, wir haben den großen Vorteil, ein sehr homogenes Staatsgebilde zu sein, wir haben keine Gebiete in Städten, wo keiner mehr hingeht, wie in Amerika, 75 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur Mittelschicht, kurz: Wir müßten eigentlich viel besser abschneiden, um mindestens fünf Plätze weiter oben sein."

Was niemanden hierzulande sonderlich zu grämen scheint. Günter Haider: "In Deutschland drüben haben sie im Augenblick die Not. Dort ist Bildung das Thema Nummer eins(...) Bei uns gibt's in Wahrheit einen ähnlich hohen Reformbedarf, aber es gibt keinen Druck - wir sind eh Zehnter, was wollen Sie?" (...)

Zum einen erwarte man von Schule erheblich mehr - und zwar "mit Recht". Und
außerdem: "Wir haben es immer öfter mit Einzelkindern zu tun. Die sind es gewöhnt, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit von ihrer Umgebung zu bekommen."
Denn: "Sie sind egoistischer. (...) Heute sitzen 30 Individualisten auf einem Fleck beisammen, da schaut's dann schon ein bisserl anders aus."
(...)
Matura im Gymnasium Franklinstraße, Wien-Floridsdorf. Sechs Stunden, sieben Kandidaten, 42 Fragen, Aufregung, Anspannung, Konzentration, Alexander der Große, Greenpeace, Heiliger Krieg, Hermann Nitsch, Alkoholerzeugung - und immer wieder die Freude, der Herausforderung gewachsen gewesen zu sein.
Franklinstraße: Das ist die Schule, in der ich vor 26 Jahren maturiert habe, dieselben Mauern, dieselben Fensteröffnungen, dasselbe Stiegenhaus, und doch, alles wirkt an diesem Tag anders, fröhlicher, freundlicher, lockerer. Die Frau Vorsitzende signalisiert jedem Kandidaten grundsätzliche Empathie, der Herr Direktor gibt sich gütig-väterlich, Lehrer und Schüler scheint mehr zu verbinden, als Prüfer von Geprüftem trennt.

Ein glücklicher Zufall? Die Gunst von sechs Matura-Stunden? Hat man sich Lehrer sonst doch eher vorzustellen, wie sie uns "profil" kürzlich
vorführte: als böse "Leerer", die ihre Schüler "mit ihrer unverhohlenen Abscheu vor der Arbeit in den Schulen" aus den Klassenzimmern treiben?
(...)
Doch nicht nur im Pädagogischen, auch im Fachlichen tut sich hierzulande schon manche Lücke auf. "Ein großes Problem, das auf uns zukommt: Leute zu finden, die Chemie als Lehramt studieren oder Physik oder Informatik, ohne den Verlockungen einer privatwirtschaftlichen Karriere zu erliegen, die von den Finanzen her unendlich attraktiver ist", weiß Helmut Jantschitsch. "Da gerät man leicht in eine Spirale, daß man nicht die besten Lehrer bekommt, daher der Unterricht nicht attraktiv ist, sich die Schüler daher nicht dafür interessieren und so weiter."

Und wenn's ums liebe Geld geht, dann findet sich auch Barbara Nowikow von der alternativen "Bildungsgewerkschaft" Seite an Seite mit Jantschitsch und der sonst eher scheel beäugten alten Tante GÖD; schließlich: "Geld motiviert, und ich denke, eine gute Arbeit muß auch gut bezahlt werden. Das hängt eng mit unserem Image zusammen. Es steht uns einfach zu."

(...)

Konzepte wie dieses müssen nicht auf den alternativen Schulbereich beschränkt sein. Ähnliches weiß Christine Krawarik etwa über das finnische Schulsystem zu berichten: "Ich habe mir das nicht vorstellen können, aber wenn da ein Kind Arzt und das andere Friseur werden will, dann gehen die dennoch zehn Jahre gemeinsam in die Schule. Da darf sich der zukünftige Arzt nicht langweilen, und der zukünftige Friseur darf nicht überfordert werden, das ist eben Aufgabe des Lehrers. Und offensichtlich schaffen die das."
Offensichtlich: Schließlich sind die Finnen Europas "Pisa"-Musterschüler. "Man muß sich diese frühe Selektierung im Alter von zehn Jahren einfach überlegen", meint auch Günter Haider. "Kein Wissenschaftler der Welt hat eine Testbatterie entwickeln können, die wirklich valide Daten dafür liefert, und bevor ich 30 oder 40 Prozent falsche Entscheidungen treffe, die mir später auf den Kopf fallen . . ."

Gewiß: "Irgendein Unterricht, der auf die Leistungsfähigkeit der Schüler Bezug nimmt, ist logisch, ich kann nicht einen Superbegabten und einen sehr wenig Leistungsfähigen gleich behandeln; aber da muß man sich überlegen, ob man das nicht in einem intelligenteren System tut." Womöglich in einer - horribile dictu - Gesamtschule, Herr Haider? "Bis zur achten Schulstufe würde ich versuchen, die Kinder als soziale Gruppe zusammenzuhalten, nach ihren jeweiligen Schwächen und Stärken gut zu fördern. Aber diese Diskussion ist bei uns völlig festgefahren, man darf ja über das Gymnasium gar nicht reden, denn dann fällt die eine Reichshälfte über dich her. Du kannst zwar am Biertisch mit den Leuten diskutieren, sie geben dir auch recht, aber sobald öffentlich gesprochen wird, wird einheitlich gesprochen."
(...)

Faktum ist, so Günter Haider, daß seit Jahrzehnten "eine minimal veränderte Fortschreibung der alten Lehrpläne stattfindet": "Schauen Sie sich unsere Lehrbücher an: Das Mathematikbuch von Rinderer/Laub hat nach dem Krieg im Grunde genauso ausgeschaut, wie es heute ausschaut."

Selbst dort, wo man sich zu einer Neugestaltung des Lehrplans durchringe, wie bei dem seit 2000 gültigen Unterstufen-Lehrplan für die Allgemeinbildenden Höheren Schulen, setze man nach wie vor falsche
Schwerpunkte: "Unsere Lehrpläne definieren im wesentlichen, was passieren soll im Lauf der Schulzeit. Wichtiger wäre es, festzulegen, was an Output da sein soll. Das müßte über Standards beschrieben werden; und dann könnte man den Schulen im wesentlichen überlassen, was sie tun. Man sagt: Das sind die Kernkompetenzen, die müssen erreicht werden. Und wir werden von Zeit zu Zeit überprüfen, ob ihr das schafft."

In Skandinavien habe man schon vor zehn, 15 Jahren ähnliche Veränderungen
eingeleitet: "Die haben erkannt, daß sie den Entwicklungen, die so flott vor sich gehen - in der Gesellschaft, in der Technik -, durch eine zentrale Steuerung nicht mehr gerecht werden. Die Schweden haben gesagt: Unser Ministerium diente der zentralen Verwaltung, jetzt haben wir keine zentrale Verwaltung mehr, jetzt können wir die Hälfte der Leute abbauen, und die werden umgeschult für draußen, wir brauchen ja Experten an der Peripherie. Es muß eben ein Umdenken auf ganzer Linie sein." Aber bei uns in Österreich . . .
(...)
Nein, unser Schulsystem ist nicht gut. Jahre-, ja jahrzehntelang wurden anstehende Reformen auf die lange Schulbank geschoben, hört man raunen, aus politischem Kalkül, aus Inkompetenz oder weil manches am Thema Bildung ideologisch so aufgeladen ist, daß sich darüber nicht mehr reden und noch weniger entsprechend handeln läßt.

Dennoch: Nein, unser Schulsystem ist auch nicht schlecht. Das schulpolitische Durchwursteln von Jahr zu Jahr, von Regierung zu Regierung, von Minister zu Minister hat ausgereicht, uns, wenn schon nichts anderes, so immerhin ein passables "Pisa"-Ergebnis zu bescheren. Die paar frustrierten Lehrer, die paar frustrierten Schüler, wen kümmern die. Hauptsache, das Ranking paßt. Bis zur nächsten "Pisa"-Studie.





--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.