NZZ 20 07 02

http://www.nzz.ch/2002/07/20/il/page-kommentar875RS.html

Bilde sich, wer kann

Das Kürzel ist bereits zur Ikone geworden. Seit PISA, dem bislang grössten internationalen Leistungsvergleich in den Kernfächern der obligatorischen Schule, steht im Bildungswesen der Schweiz - und nicht nur dort - kein Stein mehr auf dem andern. Flankiert von düsteren Schlagzeilen zum angeblich schlecht geführten Kerngeschäft in den Schulstuben, herrscht auf allen Stufen viel Reformhektik. Angesagt ist nicht nur die Stärkung der Lesekultur, die Mission heisst Rettung der Schule. Dabei steht offenbar das gesamte helvetische Bildungssystem zur Disposition - als hätte man nicht schon vor PISA gewusst, dass diese wichtige Institution zur Sozialisierung Heranwachsender vom immer komplexeren gesellschaftlichen Leistungsauftrag zunehmend überfordert ist.

Bei unserem nördlichen Nachbarn, dem Land der Dichter und Denker, ist PISA nach der Leistungsschau im Vergleich der Bundesländer sogar flugs zum Wahlkampf-Vehikel emporstilisiert worden. Dabei steht doch der Schiefe Turm - jenes bedeutende kulturhistorische Denkmal in der Geburtsstadt Galileo Galileis, die dem «Programme for International Student Assessment» sein Kürzel lieh - trotz vorübergehenden Stabilitätsproblemen für Beständigkeit schlechthin.

Eine Beständigkeit, aus der sich für das Bildungswesen einiges ableiten liesse. Allem voran die Einsicht, dass sich schiefe schulische Systeme begradigen lassen - allerdings nicht schnell mal über Nacht. Oder die Erkenntnis, dass Schulformen, die im einen Land auf Grund der gesellschaftspolitischen Verhältnisse optimal funktionieren, nicht unbesehen auf ein anderes übertragen werden können. Und nicht zuletzt das Eingeständnis, dass selbst die innovativsten Unterrichtssysteme versagen, wenn deren Hauptakteure - Schüler, Lehrkräfte, Bildungsplaner, verantwortliche Erziehende - schlecht motiviert sind und nicht am selben Strick ziehen.

Diese Sabotage findet nur allzu häufig statt. Systembedingt. Die Integration der Mitschüler aus Bolivien, eine Projektwoche auf der Alp, Kochen für Knaben und noch der Tag der Kuh. Existenzielle Prüfungsangst in Kernfächern, dann wieder anbiedernde Kuschelpädagogik und didaktische Spasskultur vor den Ferien, bevor wie aus heiterem Himmel die seelische Bewältigung einer Messerstecherei auf dem Pausenplatz ansteht. Die Angst der Lehrer vor Klasse, Lehrerzimmer, Elternabend und Kostendruck. Eltern-Ehrgeiz und gesellschaftlicher Leistungsdruck - und im Hinterkopf der Auszubildenden die heimliche Sehnsucht nach dem Handy, dem schnellen Kick nach Schulschluss, nach dem Cyberspace, dem Gameboy und dem Gewaltvideo. Kann das noch gut gehen? Werden Schüler in diesem überfrachteten System, wie der Hamburger Bildungskritiker Dietrich Schwanitz diagnostiziert, zu einer Horde lernunwilliger, ungezogener, an TV-Unterhaltung gewöhnter Bestien? Gefangen in einem starren Lehrplan, der nicht ihrer Welt entspricht?

Vielleicht hat PISA darauf eine Antwort. Es ist zu fragen, welche Therapien diese Diagnose zulässt und wo die bildungspolitische Scharlatanerie beginnt.

Faktum ist, dass dieser Test in 32 Staaten, davon 28 OECD-Mitgliedsländern, erstmals - und richtigerweise - den Fokus von der blossen Wissensabfrage aufs vernetzte Anwenden von Kenntnissen im ausserschulischen Bereich verlagert hat. Die gewählte Methode ist damit repräsentativ für die Messung zentraler Lebensleistungen. Geprüft wird in drei Umgängen die Anwendung von Grundwissen am Ende der Pflichtschulzeit. Stand im Jahr 2000 die Lesekompetenz im Zentrum, wird es 2003 die Mathematik sein, 2006 werden die Naturwissenschaften unter die Lupe genommen. Im ersten Umgang wurden weltweit rund eine Viertelmillion 15-jährige Schüler überprüft - allerdings nur stichprobenartig. Damit sind direkte Rückschlüsse aus den Ergebnissen auf die Lehrerleistung, den Unterricht oder gar auf das gesamte Schulsystem nicht zulässig, auch wenn sie nun gerade in tiefer rangierten Ländern zuhauf gezogen werden.

Dies bedacht, hat die erste PISA-Runde für die Schweiz aber durchaus wichtige Bezüge aufgezeigt. Die Erkenntnis etwa, dass schlechtes Textverständnis eng mit ausserschulischem Alltagsverhalten und familiärem Umfeld korreliert. Wie sollen Jugendliche noch Lese- und Schreiblust entwickeln, wenn zu Hause keine Bücher mehr im Regal stehen und Handy, Fernsehbildschirm und Computer die innerfamiliäre Kommunikation längst ersetzt haben?

Beunruhigend mit Blick auf den hohen Ausländeranteil an Schweizer Schulen ist auch der Befund, dass die Beherrschung der Unterrichtssprache ein zentrales Nadelöhr zum Erlernen aller Bildungsinhalte darstellt. Zu denken geben müssen ferner die für Deutschland und die Schweiz nachgewiesenen krassen Unterschiede bei der Lesekompetenz zwischen Jugendlichen aus höheren und niedrigeren sozialen Schichten. Dazu passt der Befund, dass PISA für diese Länder die höchste Diskrepanz zwischen Leistungsschwächsten und Leistungsstärksten nachgewiesen hat und diese Schere selbst mit breiten Förderprogrammen nicht hat geschlossen werden können. Das Fazit dieser Ergebnisse ist nicht neu: Ein ausländisches Mädchen mit wenig gebildeten Eltern, das auf dem Land wohnt, geht mit deutlich schlechteren Aussichten ins Erwachsenenleben als ein städtischer Schweizer Jugendlicher, dessen familiäres Umfeld ein hohes Bildungsniveau aufweist.

Was macht die Schweiz aus diesen Befunden? Bezeichnenderweise erschallt nun vermehrt der Ruf nach Zusammenlegung der 26 kantonalen Schulsysteme zur Schweizer Einheitsschule oder nach der Einführung einer Gesamtschule nach finnischem Vorbild. Vor diesem ineffizienten Mammutprogramm sei gewarnt. Er wäre blosse Symptombekämpfung. Sinnvoller als die Aufhebung der kantonalen Schulhoheit ist eine Harmonisierung der Schulstrukturen und Lernziele in zentralen Fächern. Das föderale System bietet auf dem Weg zu dieser Koordination grosse Vorteile, wenn es um die wichtige Erprobung neuer Ausbildungsstrukturen geht.

Im Kanton Zürich zum Beispiel steht ein solcher Test im grossen Stil an. Wenn die Stimmenden im November ihr Plazet geben, kann das Land unter anderem beobachten, ob an teilautonomen Schulen effizienter gelehrt werden kann, der Computer Lernprozesse fördert, die Integration von Schwächeren durch sonderpädagogische Angebote innerhalb der Regelklassen besser gelingt, früher Fremdsprachenunterricht die Sprachkompetenz fördert, eine verstärkte Unterstützung fremdsprachiger Schüler die Zweiklassengesellschaft verhindert, Kinder in einer Grundstufe flexibler und individueller an die Kulturtechniken herangeführt werden können. Und ob familienfreundlichere Tagesschulen, Blockzeiten und Kinderhorte die Abwanderung in die teuren Privatschulen zu stoppen vermögen und so verhindern, dass die Volksschule zur undemokratischen Nebenveranstaltung wird. Ein geballtes Paket an Chancen für eine bessere Schule, das mit Gewinn zum Testlauf für das ganze Schweizer Volksschulsystem werden sollte.

Aber: Das Schulsystem und dessen Leistungsfähigkeit ist nur das eine. Das andere ist die Hinwendung unserer Gesellschaft auf die individuelle Entwicklung junger Menschen im System Schule. Wurde denn in der breit losgetretenen Reformhektik nach PISA je erwähnt, dass sich das siegreiche Leseland Finnland mit einer der höchsten Selbstmordraten Jugendlicher konfrontiert sieht?

Und damit sind wir bei Erfurt. In noch viel stärkerem Masse als nach PISA muss uns die verlorene Unschuld der Schule nach diesem erschütternden Amoklauf beschäftigen. Erstmals wurde uns in Europa bei der Verzweiflungstat eines jungen Menschen, der es nach dem Selbstverständnis des Systems bis kurz vor die erste Reifeprüfung seines Lebens geschafft hat, schmerzhaft vor Augen geführt, dass schulische und erzieherische Prozesse auch Opfer produzieren, die zu Tätern werden können. Schule ist per se eine unfreiwillige Veranstaltung, welche die Jugend in Leitplanken zwingt. Und wenn der Schulsack mehr mit Komplexen und Demütigungen als mit Wissen für das Leben gefüllt wird, droht er zu platzen. Zensuren können verletzen, und wenn weder in der Schule noch im Elternhaus Raum ist, die innere Not zu kommunizieren, dann wird der Schüler zum hedonistischen Einzelkämpfer, zum isolierten Autisten mit Gewaltpotenzial. Ein Potenzial, das durch gewalttätige Filme, aggressive Computerspiele und kriminelle Handlungsanweisungen der erwachsenen Welt durchaus für den vermeintlichen Befreiungsschlag alimentiert werden kann.

Fachleute für Gewaltprävention an den Schulen, externe Betreuungsangebote, Klassenparlamente und eine offenere Konfliktkultur im Schulhaus - das sind mögliche Remedien gegen diese gefährliche Spirale. Und mehr Zeit. Zeit für das gegenseitige Kennenlernen von Schüler und Lehrer, damit die Schule ihre Anonymität verliert. Nur wenn wir Erfurt in diesem Sinne ernst nehmen, kann es ein Einzelfall bleiben.

hag.




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