SZ 27 07 02
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Wenn Lehrer keine Freunde sind
Respekt und Vertrauen könnten Gewalt verringern und das Klima zwischen Schülern und Pädagogen verbessern
Von Hayo Matthiesen
Erfurt und kein Ende. Vor wenigen Tagen hat ein 14-Jähriger im schwäbischen Heidenheim mit einem Küchenmesser auf seine 49-jährige Lehrerin eingestochen, Motiv unbekannt. Diesmal hat es das bildungspolitische Musterländle getroffen, den heimlichen Testsieger der Pisa-Studie, wo zugleich Leistungen und soziale Balance stimmen. Und nun diese Gewalttat, die erneut als Unheil in den angeblichen Schonraum einer Schule einbricht.
Dabei zeigt ein Blick in die Literatur, wie sehr Gewalt von Lehrern gegen Schüler und umgekehrt den deutschen Schulalltag auch früher mitgeprägt hat. Ein Beispiel ist der „Große Mahlke“, Hauptfigur in Günter Grass’ Novelle „Katz und Maus“. Er lauert dem Leiter seines Gymnasiums Conradium in Danzig „gegen elf Uhr nachts“ auf und schlägt ihn zusammen: Er „ließ seine linke Hand ausfahren und Klohses Hemdkragen fassen. Er drückte den Schulmann gegen einen kunstgeschmiedeten Eisenzaun und Mahlke schlug wortlos, links, rechts in des Oberstudienrats rasiertes Gesicht.“
Auch heute hat Gewalt, die sich zwischen Lernenden und Lehrenden ereignet – in ihrer schlimmsten Form im April am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt durch den ausgegrenzten Schüler Robert Steinhäuser – fast immer einen Anlass in der Schule, in der Klasse, im Unterricht. Aber dort liegt selten ihr Ursprung. Sie hängt vielmehr mit dem Phänomen eines allgemeinen Zerfalls zusammen, vor allem in dreifacher Hinsicht.
Erstens mit dem Zerfall dessen, was man früher Erziehungsgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden nannte. In solcher Gemeinschaft sollten möglichst viele junge Menschen möglichst optimal fürs Leben, für die Gesellschaft gefördert werden: Schick dein Kind länger auf bessere Schulen. Aus dieser Aufforderung an Eltern ist mittlerweile ein Postulat geworden: Du, Schule, bringst mein Kind gefälligst bis zum Abschluss, auch wenn es dafür nicht begabt ist!
In den Ruin entlassen
Aus dem Miteinander von Schülern und Lehrern wurde oft ein Gegeneinander: Die Gier-Gesellschaft – „Ich verlange die beste Bildung für mein Kind!“ – hat Einzug ins Klassenzimmer gehalten. Die Folge ist, dass vor allem in den Gymnasien fast aller Bundesländer Tausende von überforderten, desinteressierten, lernunwilligen, sozial auffälligen Jugendlichen sitzen, die vielen Lehrern die Arbeit zur Hölle machen: Solche Schüler wollen Lehrer nicht als Freunde.
Zweitens mit dem Zerfall der pädagogischen Autorität. Kaum eine andere Berufsgruppe ist in der öffentlichen Wertschätzung so gesunken wie der Lehrerstand. Einst waren sie – besonders in Dorf und Kleinstadt – angesehene
Persönlichkeiten; heute sind sie nicht selten zur Vorlage für Witz und Karikatur verkommen – Gespött vieler Eltern am Essenstisch.
Dabei übertragen immer mehr Eltern ihre verfassungsmäßige Erziehungsverantwortung nur zu gern auf Schule und Lehrer. Dort sollen Pädagogen unter oft unzulänglichen Verhältnissen das leisten, was immer mehr Mütter und Väter nicht mehr leisten können oder wollen. Die tägliche Überforderung führt bei vielen zu Unsicherheit, Leiden am Beruf, Krisen, Krankheiten. Studenten, die etwas werden wollen, was in dieser Gesellschaft anerkannt ist, werden eben nicht mehr Lehrer. Ein verhängnisvoller
Teufelskreis: Wer nichts wird, wird Lehrer. Und über den fallen bildungsgierige Eltern her und wissen eben alles besser, weil sie ja schließlich auch mal auf einem Schulstuhl gesessen haben. So und auch aus anderen Gründen wurde und wird der Lehrerstand von der Gesellschaft weitgehend in den Ruin entlassen.
Drittens Zerfall der Gesellschaft: Das sind aktuelle Markennamen für unsere laut Verfassung „demokratische und soziale“ Gesellschaft: Gier- Gesellschaft, Ego-Gesellschaft, Lügen-Gesellschaft, Ellenbogen-Gesellschaft, Gewalt-Gesellschaft. Die alltägliche Gewalt – das Vergiften von Lebensmitteln, die Pöbel-Reden in den Parlamenten, die Betrügereien in den Chefetagen und vor allem die allgegenwärtige Gewalt auf dem Bildschirm und im Internet – schwappt natürlich bis in die Kinderzimmer, wo der eigene TV-Apparat Babysitter spielt, und in die Klassenräume.
Dort in der Schule können lokale Ereignisse – siehe Erfurt, wo der Schüler Steinhäuser nach zwölf Schuljahren nicht einmal einen Abschluss hatte – zu Exzessen führen. Gewalt in der Schule, vor allem von Lernenden gegen Lehrende, hat also fast immer mit der Gewaltbereitschaft der Gesellschaft zu tun. Sie ist der Hintergrund, vor dem Schul-Gewalt meistens durch individuelle Konstellationen vor Ort ausgelöst wird, durch persönliche Animosität, durch Ungerechtigkeit oder durch Rache an einem verhassten Pauker.
Aber es gibt und gab eben auch die despotische Macht von Lehrern gegen Schüler, oft geschildert in der Literatur, am berühmtesten, ja berüchtigsten von den Brüdern Heinrich und Thomas Mann. Beide haben ihre Schule gehasst. Heinrich hat in seinem „Professor Unrat“ einen „Tyrannen“ ein pädagogisches „Scheusal“ geschildert, Thomas hat sich in ironischer und vernichtender Weise über seine unfähigen Lehrer am Lübecker Katharineum hergemacht – beide haben freilich die Schule (wie Steinhäuser) ohne Abschluss verlassen müssen.
Dass Lehrende und Lernende auch ganz anders miteinander umgehen können, haben in letzter Zeit zahlreiche Journalisten in ihren Reportagen über Bildungssysteme der Pisa-Siegerstaaten beschrieben, vor allem über die Schulen in Finnland und Schweden:
– Kinder und Schulen werden von Politikern nicht als Thema von belanglosen Sonntagsreden missbraucht, sondern tatsächlich personell, finanziell, sachlich und ideell als Zukunft (-sinvestition) von Staat und Gesellschaft behandelt und gewürdigt.
– Daraus ergibt sich ein breites positives Selbstbewusstsein der am Bildungsprozess beteiligten Lehrer, Schüler, Verwaltungsbeamten, Wissenschaftler, die stolz auf ihre Leistungen sind, weil sie von der Gesellschaft anerkannt werden.
– Basis für die pädagogische Arbeit sind Begriffe wie Gemeinschaft, Vertrauen, Miteinander, Integration, Hilfe, Förderung, über die ein parteiübergreifenderKonsens besteht.
Es handelt sich also um eine Verständigung über die hohe Bedeutung von
Bildung; daraus folgt die notwendige gute materielle und personelle Ausstattung von Schulen und Hochschulen; so ergibt sich das positive Bildungsklima, in dem Schulfreude und Leistungen gedeihen. Einfach ausgedrückt mit Sätzen von bundesdeutschen Familienpolitikern auf einer Bildungsreise durch Finnland: „Hier ziehen wirklich Schüler und Lehrer am gleichen Strang. Hier haben Schüler Lust am Lernen und Lehrer gehen gern zur Schule.“ Und finnische Schüler bekennen: „Hier sind unsere Lehrer wie Freunde.“ Wo das möglich ist, kann Schule auch für Schülerinnen gelingen.
Der Autor hat über zwanzig Jahre als Lehrer in Deutschland und auch in Schweden gearbeitet.
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