Mehr Textverarbeitung, weniger Deutschunterricht?
Mehr Textverarbeitung, weniger
Deutschunterricht? Mit einem offenen Brief an
Ministerin Elisabeth Gehrer reagiert ein Wiener
Jugendbuchverleger auf Pläne, die Zahl der
Deutschstunden in den ersten Gymnasial-klassen
zu reduzieren.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, im Zuge eines Gesprächs mit Lehrerinnen und Lehrern wurde
ich informiert, dass im Gymnasium in der ersten Klasse künftig statt der fünf Wochenstunden
Deutsch nur mehr vier Stunden unterrichtet werden sollen.
Die fünfte Stunde wird, so die derzeitige Planung, für Textverarbeitung am Computer verwendet
werden. Als Geschäftsführer eines der größten Kinder- und Jugendbuchverlage im
deutschsprachigen Raum erlaube ich mir, dazu Stellung zu nehmen: Ich halte es für besonders
wichtig, dass Lesen als instrumentelle Fertigkeit, aber auch als positives emotionales Erlebnis in
den Schulen möglichst vielseitig vermittelt wird. Nicht nur aus einem
(langfristigen) ökonomischen
Interesse heraus. Auch weil ich der festen Überzeugung bin, dass mit jungen
(regelmäßigen)
Leserinnen und Lesern von Büchern im Prinzip emanzipiertere, (selbst-)kritischere, tolerantere und
nicht zuletzt geistreichere und in jedem Sinn "verständnisvollere" Menschen heranwachsen.
Sozialisierung
Die Schulen spielen bei diesem Sozialisierungsprozess eine ganz entscheidende Rolle. Und
engagierte DeutschlehrerInnen werden von der geplanten Maßnahme selbst dann in der Ausübung
ihrer Lehrtätigkeit behindert, wenn sie die Stunde Textverarbeitung übernehmen sollten.
Die Schüler können in der ersten Klasse noch nicht Maschine schreiben, das heißt also, sie
müssten zuerst das Zehnfingersystem zur Bedienung der Tastatur lernen. Bisher gab es an
einigen - ich weiß nicht, an wie vielen - Schulen in der zweiten Klasse Gymnasium einen
Freiegenstand "Maschinschreiben", den fast alle SchülerInnen besuchten. Das heißt also, eine
(wertvolle) Deutschstunde wird zumindest für ein paar Monate dafür genutzt, dass die SchülerInnen
den Umgang mit der Tastatur lernen.
Viel gewichtiger aber sind die Argumente, die für die Beibehaltung einer fünften Deutschstunde
sprechen:
1. Die Lesefähigkeit der Erstklassler am Gymnasium ist - das hört man immer wieder - sehr
unterschiedlich entwickelt. Während die einen noch mit dem Finger unter der Zeile mitfahren und
mühsam ein Wort nach dem anderen buchstabieren, können andere lange Textpassagen
bewältigen und verstehen. Es bedarf einiger Zeit und Anstrengung, beide Gruppen zu fördern und
zu fordern.
2. In der ersten Klasse wird von engagierten Lehrern viel Zeit im Deutschunterricht dafür verwendet,
bei Kindern die Lust am privaten Lesen zu wecken. Gerade das wird von vielen Eltern auch
gewünscht, sie erwarten sich von der Schule ein echtes Gegengewicht zum medialen
Freizeitverhalten ihrer Kinder und beklagen sich, dass diese so viel Zeit mit dem Computer
verbringen und für Bücher kein Interesse haben. Kindern wird z. B. von ihren LehrerInnen
Gelegenheit gegeben, der Klasse ein Buch vorzustellen, eine Leseprobe zu geben und ihre
Meinung zu diesem Buch zu formulieren. Dann wird das "Publikum" zu einer Diskussion
eingeladen. Dafür braucht man die entsprechende Unterrichtszeit, vor allem wenn die Klasse
durchschnittlich 30 Schüler hat.
3. Die Anforderungen des Lehrplans in der ersten Klasse zur Rechtschreibung, zur Erweiterung
des Wortschatzes und der sprachlichen Ausdruckfähigkeit sowie zur Sprachbetrachtung
(Grammatik heißt das ja nicht mehr) sind - so wurde mir versichert - vielschichtig. Wenn
Deutschlehrer sie ernst nehmen, ist im Unterricht viel zu tun. In der Praxis wird da, so bin ich
überzeugt, gekürzt, wenn eine Wochenstunde weniger zur Verfügung steht: Zum Beispiel beim
Rollenspiel, bei der Leseerziehung, beim kreativen Schreiben.
4. Bereits vor einigen Jahren wurde eine Wochenstunde Deutschunterricht in der zweiten Klasse
Gymnasium eingespart (Kürzung von fünf auf vier Wochenstunden).
Vor allem in Hinblick auf die Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment der
OECD - Anm. d. Red.) und die aktuellen Studien zur Leseforschung und Buchnutzung (der
Zeitaufwand von Schulabgängern für das Lesen ist innerhalb von zehn Jahren um 40 Prozent
zurückgegangen!) bitte ich Sie und die beteiligten ExpertInnen, diese für das Schuljahr 2003/2004
geplante Änderung nochmals zu überdenken, und verbleibe mit freundlichen Grüßen,
Dr. Fritz Panzer
Geschäftsführer des Wiener
Ueberreuter Verlags
© DER STANDARD, 3./4. August 2002
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