Frankfurter Rundschau 07 08 02
Geplatzte Träume
Für viele US-Bürger wird nichts aus dem frühen, sorgenfreien Ruhestand - eine Nation leidet an der Wall-Street
Von Jürgen Koar (Washington)
Wie es ihm geht? "Lausig", antwortet Herman Molzahn. Nicht gesundheitlich. Der 63-Jährige hält sich mit langen Fahrradtouren fit. Die Zeit hat er, weil er ein Opfer der Telekommunikationsindustrie ist. Dem Unternehmen Comsat war er zu alt und zu teuer. Es schickte ihn mit einem Jahresgehalt Abfindung und vollem Pensionsfonds in den vorzeitigen Ruhestand. Molzahn bezieht bereits seine Rente aus der staatlichen "Social Security" und kann sich glücklich schätzen, dass er nicht auf Arbeitssuche gehen muss. Noch nicht. Er grinst und beißt die Zähne zusammen. Sein Pensionsfonds, den er in ein steuergünstiges "Individual Retirement Account" (IRA) verwandelte, hält nicht, was er sich von ihm versprach. Seine Anlagen werden zusehens weniger wert. Aber zum Aussteigen ist es zu spät, meint er - und verkauft nicht: "Der Tiefpunkt ist fast erreicht", hofft er auf bessere Zeiten. Aber bis dahin fühlt er sich Tag für Tag lausig.
Vor drei Jahren wähnte Bob Black sich reich. Da war er 56 Jahre alt. Er hatte für den Telefon-Konzern AT&T gearbeitet, sich selbstständig gemacht, schließlich sein Geschäft mit großem Gewinn verkauft und das Geld in Aktien angelegt. Er baute sein Traumhaus an der Atlantikküste in North Carolina und setzte sich mit seiner Frau zur Ruhe. Für ihn wuchsen die Bäume in den Himmel. Keine Fernsehsendung fesselte ihn so wie die Börsennachrichten. Später bereiteten diese News ihm Sodbrennen, als die Kurse ihren freien Fall begannen. 50 bis 60 Prozent seiner Einlagen hat er verloren, bevor er in Rentenversicherungen investierte. "Wenn ich nicht das Geld für den Hausbau flüssig gemacht hätte, stände ich heute noch viel schlechter da", gesteht der 59-Jährige. "Dann könnte ich mir weder mein Haus, noch mein Boot leisten." Bis die Resthypothek abgezahlt ist, übernimmt Bob Black von Zeit zu Zeit Aufgaben als Berater im Technologiebereich.
Auch Mike Lemon ist 59. Auch er kann sich noch nicht zur Ruhe setzen, obwohl er alles so sorgfältig geplant hatte. Der Kleinunternehmer verkaufte sein Wohnhaus in New Jersey, seine Ferienwohnung im Norden, erwarb einen sehr viel billigeren Alterssitz in Florida, legte das übrig gebliebene Kapital in Aktien an und wollte von den Gewinnen leben. "Meine ganze Planung ist zum Teufel", schimpft er und entwirft wieder Heizungsanlagen für Betriebe. Heute wünscht er sich, er hätte seine teuren Immobilien im Norden behalten und eher noch welche hinzugekauft. Die Hypothekenzinsen sind niedriger denn je, und die Hauspreise steigen und steigen. "Aber manche warnen ja schon vor der nächsten Blase, die platzen wird", tröstet er sich. In seiner Siedlung an Floridas Golfküste ist Mike Lemon bei weitem nicht der Einzige, der die Arbeit wieder aufgenommen hat. Drei Nachbarn, zwei so alt wie er und der Dritte 71, jobben drei bis vier Tage in der Woche, weil sonst das Geld nicht reicht. Ihre Rücklagen schmolzen mit dem Dow Jones Börsenindex.
Der Anteil der über 55-jährigen US-Bürger am Arbeitsmarkt ist vergangenes Jahr um mehr als acht Prozent gestiegen. Und die Zahl ist nicht mit der Flucht vor der Langeweile zu erklären, sondern mit den vielen an der Wall Street geplatzten Träumen vom frühen Ausstieg aus dem Hamsterrad des Berufslebens. Die Versuchung war stark, an den Boom ohne Ende zu glauben, an 20-prozentige Jahresgewinne und das Reichwerden im Schlaf. Doch die Investoren verloren auf dem Papier fast acht Billionen Dollar, seit der Dow Jones im März 2000 seinen Höhepunkt erreichte. Selbst Millionengewinne boten keinen Schutz vor einer harten Landung. Jim und Jan Pringle verkauften vor zwei Jahren ihre Werbeagentur in Atlanta und legten den Erlös in Aktien an. Sie bauten ihre Luxusvilla am Meer und wollten viel reisen. Doch ihre Anlagen sind heute nur die Hälfte wert. Sie haben eine neue Agentur gegründet und sind wieder im Geschirr.
Die Molzahns, Blacks, Lemons und Pringles haben Leidensgefährten, die sehr viel ärmer dran sind: Dreißig Jahre arbeitete Roger Boyce für den Energieriesen Enron. Vor zwei Jahren nahm er seinen Abschied und einen Batzen Geld mit in den verdienten Ruhestand. Sein Pensionsfonds war auf 900 000 Dollar angewachsen. Für jeden Dollar, den er einzahlte, gab sein Arbeitgeber 50 Cent in Enron-Aktien dazu. Boyce setzte alles auf eine Karte und kaufte nur Enron-Aktien. Als der Konzern sich zu gefälschten Bilanzen bekannte und den Bankrott erklärte, blieben Boyce nicht einmal 10 000 Dollar in seiner Pensionskasse. Er verklagte seinen Ex-Arbeitgeber und ging mit Frau Marilyn auf Jobsuche.
Sein Kollege David Judkins ist nur halb so alt, und das wurde ihm zum Verhängnis, als er in sicherere Anlagen flüchten wollte: Die Regeln bei Enron verboten es Mitarbeitern unter 50 Jahren, die hauseigenen Aktienzuwendungen zu verkaufen. Judkins musste hilflos zusehen, wie sein Pensionsfonds von 32 000 auf 4000 Dollar schrumpfte. Die Gesetzgeber im Kongress wollen erreichen, dass Arbeitnehmer künftig nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit ihre Pensionsfonds nach Belieben umschichten können. Aber für 11 000 Enron-Mitarbeiter kommt das zu spät. Beim Telekommunikationsgiganten Worldcom wurden langjährige Angestellte mit 4900 Dollar abgefunden, und viele der jungen "Hotshots"-Senkrechtstarter stehen vor dem Nichts, weil ihr Markt daniederliegt.
Die Jüngeren haben noch Zeit für eine Aufholjagd. Nur ein Drittel der Beschäftigten mit Jahreseinkommen bis 50 000 Dollar klagt über schmerzliche Einbußen. Unter den 45- bis 60-Jährigen mit mehr als 75 000 Dollar im Jahr sind es doppelt so viele. Sie sind bei den Einkommen oben angelangt und sorgen gezielt fürs Alter vor. Bisher kannten sie keinen Schmerz. Seit die neuen "401(k)"- Sparpläne für die Altersversorgung vor rund zwanzig Jahren nach und nach zum Renner wurden, ist zum ersten Mal an der Börse der Bär los.
Bevor die USA zu einer Nation von Anlegern wurden, waren die traditionellen Pensionsfonds der Arbeitgeber der übliche Weg, über die staatliche Rentenkasse hinaus für das Alter zu sparen. Ihre Zahlungen bis zum Lebensende sind durch ein Bundesgesetz garantiert. Für viele der heute über 70-Jährigen ist das ein zusätzliches Ruhegeld. Doch diese Pensionskassen sind aus der Mode gekommen. Nur noch rund 20 Millionen US-Bürger halten ihnen die Treue, 42 Millionen folgten lieber dem Ruf der Wall Street und bauen auf ihre Investionen von (eben noch) insgesamt knapp zwei Milliarden Dollar. Die Älteren fragen sich nun besorgt, ob sie auf Sand gebaut haben.
Da allein von der staatlichen "Social Security"-Rente zu leben, ein eher karges Dasein verspricht, schaffen die betrieblichen Pensionskassen ein zusätzliches Finanzpolster. Nur im öffentlichen Dienst ersetzt die staatlich garantierte Pension die Rente. Als der Gesetzgeber den Arbeitnehmern die Möglichkeit eröffnete, in eigener Regie ein Nest aus Aktien zu bilden, begann die "Demokratisierung" der Wall Street. Jeder konnte nun Millionär werden. Die Arbeitgeber können, müssen aber nicht beisteuern. Viele Firmen machen Mitarbeiter zu Anteilseignern. Das bindet und erspart dem Haus den Kauf von Fremdpapieren. Beim Ausscheiden nehmen die Angestellten ihren Pensionsfonds mit. Die Idee, den Arbeitnehmern den Weg zum Aktienmarkt zu öffnen und sie ihr Portfolio selbst verwalten zu lassen, erschien bestechend. Im Kongress wurde schon der Vorschlag des Präsidenten diskutiert, die Pflichteinzahlungen in die Rentenkasse zum Teil freizustellen und alternativ Altersvorsorge per Aktienkauf zu erlauben. Diese Debatte ist verstummt.
"Die geplante Privatisierung der staatlichen Social Security hätte alles noch viel schlimmer gemacht", sagt Herman Molzahn. Seit dem Enron-Skandal spricht er viel von "den Verbrechern" und meint damit die Konzernchefs, die ihre Firmen in die Pleite führten und sich selbst mit vielen Millionen Dollars bedienten, während Mitarbeiter und Aktionäre den Kürzeren zogen. "Nichts bereitet mir mehr Vergnügen als ihr Anblick in Handschellen", sagt der Radfahrer und steigt kräftig in die Pedale. Es ist wieder ein lausiger Tag, sagt ihm der Blick auf den Dow Jones.
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.or.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.