ARME BUBEN
Das neue Schuljahr startet demnächst - für Burschen eine größere Qual als für Mädchen, die nicht nur bei den Noten auf der Gewinnerseite stehen. Mittlerweile haben selbst Feministinnen Mitleid mit den Buben, berichtet Martina Salomon.
Verstoßene kleine Prinzen
Wann immer ein Schüler eine Gewalttat verübt, zucken alle kurz zusammen: Hat niemand seine Qualen bemerkt? Und: Muss sich die Gesellschaft mehr um die Buben kümmern? Doch wenig später kehrt auch im Schulalltag wieder Routine ein. Ein Alltag, in dem sich besonders engagierte Lehrerinnen um "Mädchenarbeit" kümmern. Gerade diese Pädagoginnen wissen meist, dass auch dringend spezielle "Bubenarbeit" nötig wäre, die über Sportangebote hinausgeht und sich um die emotionale Entwicklung der Jungmänner kümmert. Antimachopädagogik
Denn diese sind die "Stiefkinder der Moderne", wie es die Sozialwissenschafterinnen Cheryl Benard und Edit Schlaffer in ihrem Buch "Einsame Cowboys" (Kösel-Verlag München, 2000) formulieren (siehe Interview). Mittlerweile packt offenbar selbst Feministinnen Mitleid mit den Buben. Wobei die Frauenbewegung ganz andere Wege aus dem Dilemma vorschlägt als der (kleine) Teil der Männerwelt, der sich darüber ebenfalls Gedanken macht. Erstere ermutigt die Mütter, ihre Söhne nicht zu den emotionalen Krüppeln werden zu lassen, zu denen man ihre Väter machte, und fordern Antimachopädagogik. Engagierte Männer - wie etwa Wiens Exstadtschulratspräsident Kurt Scholz - wünschen sich hingegen dringend mehr männliche Bezugspersonen im Bildungsprozess. Fest steht: Die Buben rücken zunehmend ins Blickfeld von Forschung und Medien. So schrieb Die Zeit über die "neuen Prügelknaben" und verwies darauf, dass weibliche Eigenschaften von Lehrern als "richtig", die traditionelle Bubenrolle hingegen als "sozial defizitär" empfunden wird. Das deutsche Magazin Focus titelte kürzlich sogar: "Arme Jungs". Das schwache Geschlecht - ja wer ist das eigentlich? Männliche Jugendliche werden häufiger kriminell, verletzen sich häufiger, sind gefährdeter, Drogen zu konsumieren, bekommen die schlechteren Noten, bleiben häufiger sitzen und sind in Summe weitaus weniger reif als ihre Klassenkameradinnen. Sie nerven Lehrer, weil sie mehr Aufmerksamkeit fordern - und werden als Störenfriede letztlich weniger ernst als die Mädchen genommen. Burschen stehen gleichzeitig unter enormem Gruppendruck. Gut in der Schule zu sein gilt in ihren Cliquen als Makel. Damit erklärt sich übrigens auch die britische Zeitung Times ihre Frage nach den immer auffälligeren Noten-Unterschieden der Geschlechter ("Why girls beat the boys"). Die verzweifelte Suche nach Anerkennung im männlichen (Wolfs-)Rudel treibt weniger selbstbewusste Jugendliche mitunter sogar zu strafbaren Aktionen. Denn wer nicht mitmacht, gilt als "schwul". Das entspreche durchaus dem Bild, dem sich Männer auch später unterordnen müssen: ewig der Stärkere, Bessere zu sein, bedauert Jugendgerichtshofpräsident Udo Jesionek. In seinem Haus sitzen übrigens 200 Burschen und nur sechs Mädchen ein. Der Präsident selbst traute vor einigen Jahren seinem Instinkt nicht mehr: Ausgerechnet der strengste Justizwachebeamte, der eine Art militärischen Drill aufgezogen hatte, wurde von den schweren Jungs besonders angehimmelt. Doch gerade dieses Modell schwebt den Feministinnen nicht vor. Der Trend geht zu "Bubenarbeit" - was bei manchen Männern durchaus gemischte Gefühle auslöst: "Wenn das Ergebnis Gleichschaltung wäre, dass also alle einfach nur so sein sollen wie die Mädchen, dann kann's das wohl nicht sein", meint Erziehungswissenschafter Edgar Forster, der gemeinsam mit dem "Friedensbüro Salzburg" Bubenarbeit für Schulen (vor allem unter dem Aspekt der Gewaltprävention) macht. Gut daran sei, dass Aggressionen nicht mehr hingenommen werden, findet Forster. Schlecht findet er, dass jede kleine Unangepasstheit gleich als Verhaltens- oder Teilleistungsstörung "pathologisiert" werde. Tatsächlich nimmt der Absatz beruhigender Medikamente (Ritalin) für notorische Zappelphilippe in den Industrieländern stetig zu. In der Lehrerausbildung werde überhaupt kein Bewusstsein für die unterschiedliche Entwicklung von Mädchen und Buben entwickelt, kritisiert Heidi Schrodt, AHS-Direktorin der "Rahlgasse". Ihre Schule ist eine von ganz wenigen, in der man von der Mädchen- inzwischen zur Bubenarbeit gekommen ist. Stille werden gemobbt
Ruhige Burschen seien "besonders arm - ärmer als die Mädchen", sagt sie. Wie knallhart der Schulhof für uncoole, introvertierte Typen sein kann, zeigt gerade der britische Unterhaltungsfilm "About a boy", der ansonsten ganz im Sinne der "Männerbewegten" funktioniert: Eine (coole) männliche Identifikationsfigur genügt - und schon kriegt beider Leben Sinn. Im wirklichen Leben werden die Stillen durch gleichaltrige Stänkerer beispielsweise per SMS verhöhnt, erzählt Schrodt. Wobei die Nachricht, dass seine Mutter eine "fette Sau" sei, noch zu den harmloseren Gemeinheiten gehört. Woanders räumen die solcherart gemobbten Buben das Feld und wechseln die Schule. Schrodt hingegen hat "Bubenbetreuungslehrer" auserkoren, die sich die Cliquenanführer gezielt herausholen, um mit ihnen auch mal ein ernstes Gespräch im Kaffeehaus zu führen, wobei auch Strategien zur Wiedergutmachung erarbeitet werden. In einem neuen Mediationsprojekt für Konfliktfälle in der Rahlgasse wird vor allem auf zwei Dinge Wert gelegt: dass der Zuhörer neutral, aber trotzdem einfühlsam ist. Schließlich brauchen auch Buben liebevolle Zuwendung.
© DER STANDARD, 24./25. August 2002
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