"Die Schule gehört grundlegend reformiert"
"Mädchenarbeit" ist modern - während Buben "allein gelassen" werden, sagen die Sozial-wissenschafterinnen Edit Schlaffer und Cheryl Benard. Sie äußern im Gespräch mit Martina Salomon fundamentale Kritik am Schulwesen.
Standard: In den letzten Jahren hat man alles getan, um die Mädchen im Bildungswesen zu fördern. Sind jetzt die Buben ins Hintertreffen geraten?
Schlaffer: Wenn man das Zusammenleben der Geschlechter verbessern möchte, kann man nicht ausschließlich mit den Mädchen arbeiten.
STANDARD: Hat der Feminismus das Männliche schlechthin verdächtig gemacht, wie der australische Therapeut Biddulph behauptet?
Benard: Der echte Feminismus wollte die Gesellschaft gerechter und lebenswerter machen - für alle. Das Problem für die Buben entstand, weil erwachsene Männer sich nicht hinreichend an dieser sozialen Bewegung beteiligten. In den Schulen zum Beispiel gründeten Lehrerinnen Initiativen für die Mädchen. Besser wäre es gewesen, koedukative Konzepte zu entwickeln, die auch die Defizite und Sozialisationsschäden der Buben aufgreifen. Die Lehrerinnen unterließen das in der Annahme, dass männliche Kollegen sich ja darum kümmern könnten.
STANDARD: Wird männliches Gehabe heutzutage zu schnell pathologisiert?
Schlaffer: Es ist notwendig, alternative Muster zum angeblichen männlichen Bild anzubieten - so wie auch zu ängstliche und passive Mädchen erst lernen mussten, Auftreten und Selbstbild zu verändern. Dazu kommt, dass die Schule in vieler Hinsicht einfach nicht kindgerecht und jugendgerecht ist und grundlegend reformiert gehört. Bei Buben fällt es stärker auf, weil ihre Motorik und ihre Reaktion auf Situationen, in denen sie sich nicht wohl fühlen, offensichtlicher ist. Sie machen Lärm, raufen, verweigern die Kooperation.
STANDARD: Viele Kinder - wieder vor allem Buben - bekommen Medikamente, um ruhiger und konzentrierter zu sein. Was halten Sie davon?
Schlaffer: Das ist natürlich vollkommen verkehrt. Wenn viele Kinder Probleme mit der Schule haben, dann liegt es nicht an den Kindern, sondern an der Schule. Der Tagesablauf, die Methoden des Unterrichtens, der Inhalt des Unterrichts: Das alles ist weitgehend veränderungsbedürftig. STANDARD: Gibt es im Bildungs-und Erziehungsprozess zu wenige Männer?
Benard: Es geht um die Werte und Einstellungen, nicht um die Geschlechtszugehörigkeit. Dass nur Männer "Bubenarbeit" leisten können, ist schlicht falsch.
STANDARD: Sind die Mütter daran schuld, wenn aus Jungen Paschas werden?
Benard: Nur, wenn sie ihre Kinder unterschiedlich behandeln, die Mädchen mitarbeiten und die Söhne faulenzen lassen. Wichtig ist, dass für die Kinder in der Familie gleiche Regeln gelten.
STANDARD: Wird dem möglicherweise größeren Bewegungsdrang von Buben im Schulwesen genügend Raum gegeben?
Schlaffer: Nein. Für Mädchen ist es aber genauso schädlich, nur sind sie es mehr "gewöhnt", eine erzwungene Sesshaftigkeit zu ertragen. Schlecht ist es für alle.
STANDARD: Muss man die Koedukation hinterfragen?
Schlaffer: Ehrlich gesagt sind wir als Mütter von Söhnen in dieser Frage in einem Gewissenskonflikt. Die Teilung ist, allen Studien und Befragungen zufolge, für die Mädchen gut, aber für die Buben schlecht. Wir denken, dass es fairer sein wird, statt dessen an der Koedukation zu arbeiten und das Problem des unterschiedlichen Lernverhaltens anders zu lösen als durch eine Trennung.
STANDARD: Warum sind Amokläufer eigentlich immer männlich?
Benard: Männer lernen und sind wohl auch von ihrer Prädisposition her eher geneigt, Probleme lauter und gewalthafter zum Ausdruck zu bringen als Frauen. Außerdem werden Buben viel früher - und zwar deutlich zu früh - in eine Selbstständigkeit entlassen. Eltern und Erzieher putzen sich hier zu leicht ab, lassen einen Jugendlichen, der eigentlich noch ein Kind ist, mit ernsten Problemen und Sorgen alleine. Mädchen werden mehr bevormundet, dafür aber auch besser gestützt.
© DER STANDARD, 24./25. August 2002
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