Aus der FTD vom 3.9.2002
Familienpolitik: Kinder und Karriere
Von Karin Nink und Tina Stadlmayer
Der Staat muss ganztägige Betreuung anbieten - für alle. Familienpolitik wurde in Deutschland jahrzehntelang nur am Rande der politischen Agenda behandelt, doch mittlerweile spielt das Nischenthema um Kinder und Frauen bei den meisten Parteien eine wichtige Rolle - auch im Wahlkampf. Es geht nicht in erster Linie darum, dass an Haus und Kinder gebundene Frauen sich selbst verwirklichen können. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, wie Deutschland - bildungspolitisch und volkswirtschaftlich
- im internationalen Wettbewerb zukünftig mithalten kann.
Die Pisa-Studie hat deutlich gezeigt, dass der Bildungsstand in Staaten mit Ganztagsschulen besser ist, wo auch Kleinkinder schon ganztägig gefördert werden. Frankreich zum Beispiel hat deutlich besser abgeschnitten als Deutschland. Die französischen Kinder werden von morgens bis abends in Schulen, Kindergärten oder Horten betreut. Weil sich die Frauen dort nicht zwischen Beruf und Kindern entscheiden müssen, ist die Geburtenrate in Frankreich höher als bei uns. Auch aus volkswirtschaftlichen Gründen ist eine neue Familienförderung nötig. Deutschland verfügt zur Zeit über die bestqualifizierte Frauengeneration, die das Land je hatte. Doch die Wirtschaft kann von diesem Potenzial nur eingeschränkt profitieren. Immer noch verzichten viele junge Frauen auf eine Erwerbstätigkeit, um zu Hause ihre Kinder zu betreuen - ein Luxus, den sich eine exportierende Industrienation nicht leisten kann. Zuspitzen wird sich die Lage spätestens, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 60er Jahre ins Rentenalter kommen. Bereits im Jahr 2005 wird die Zahl der Erwerbstätigen spürbar sinken. Die Zuwanderungskommission hat ausgerechnet, dass die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland von heute 41 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 26 Millionen sinken wird, wenn die Geburtenrate nicht deutlich steigt und nicht mehr Zuwanderer kommen. Erst wenn der Staat bessere Betreuungsmöglichkeiten schafft, werden sich viele Deutsche dafür entscheiden können, mehr Kinder zu bekommen. Weniger Erwerbstätige heißt weniger Sozialversicherungsbeitragszahler
- bei einer immer größeren Zahl an Alten, die auf die Hilfe der Renten-,
Kranken- und Pflegeversicherung rechnen. Der volkswirtschaftliche Kollaps ist programmiert.
Änderung des Ehegatten-Spittings
Das Vorhaben von SPD und Grünen, das Ehegatten-Splitting zu Gunsten von Familien mit Kindern zu ändern, wäre ein sinnvoller Schritt, denn eine moderne, liberale Gesellschaft kann nicht eine bestimmten Form des Zusammenlebens per Besteuerung privilegieren. Familienpolitik darf allerdings nicht darauf beschränkt sein, dass Kinderlose durch zusätzliche Abgaben zur Kasse gebeten werden. Entscheidend ist vielmehr, die Kindererziehung stärker als Aufgabe des Staates und nicht mehr vorrangig als Privatvergnügen zu verstehen. Die gesamte Gesellschaft profitiert davon, dass ihre Bürger unabhängig von Herkunft und Einkommen der Eltern eine gute Erziehung und Bildung erhalten. Dieser Ansatz findet sich am ehesten in den Programmen von SPD und Grünen. Mit einer Reihe von Reformen, etwa beim Erziehungs- und Kindergeld, hat die Regierung die Familien aber bisher nur finanziell entlastet. Für die nächste Legislaturperiode setzt die SPD die Priorität nun eindeutig auf den Ausbau von Ganztagseinrichtungen. Dafür wollen die Sozialdemokraten 1 Mrd. Euro pro Jahr ausgeben. Klar ist schon jetzt, dass dies nicht ausreichen wird, um eine flächendeckende Ganztagsbetreuung zu sichern. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Auch die Grünen setzen auf den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung und wollen sogar 5 Mrd. Euro Jahr investieren. So soll wenigstens das Vorschuljahr gebührenfrei sein und die Versorgung in Tageseinrichtungen besser werden. Zwar will auch die Union die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern, lässt aber nicht von ihrem traditionellen Familienverständnis ab: Statt die Ganztagsbetreuung auszubauen, wollen CDU und CSU einkommensunabhängig Erziehungsgeld und Kindergeld zu einem gestaffelten "Familiengeld" in Höhe von 150 Euro bis zu 600 Euro, je nach Alter des Kindes, einführen. So ist der Misere allerdings nicht beizukommen, denn solange es nicht genug Betreuungsplätze gibt, können Frauen auch nicht wählen, ob sie arbeiten gehen oder zu Hause Kinder erziehen wollen. Nur am Rande erwähnt werden muss die FDP. Ganz im Trend plädiert sie für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und fordern mehr Betreuungsplätze. Zu der Frage, wie dies umgesetzt werden soll, haben sich die Liberalen bislang aber nicht konkret geäußert.
© 2002 Financial Times Deutschland
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