BILDUNGSPOLITIK
"Wir brauchen keine Reform, wir brauchen eine Bildungsexplosion" / McKinsey präsentiert Vier-Punkte-Plan zur grundlegenden Verbesserung des Bildungssystems - vom 09.09.2002, 11:24 Berlin (ots) - Kongress in Berlin: Unternehmensberatung fordert mehr Investitionen in frühkindliche Bildung, Qualitätstests in Schulen, Autonomie für Schulen und ein auch über Studiengebühren finanziertes Investitionsprogramm für Hochschulen.
Die Reform des Bildungssystems in Deutschland ist nach Überzeugung der Unternehmensberatung McKinsey & Company die soziale Aufgabe des 21. Jahrhunderts. "Deutschland verspielt seine Zukunft, wenn es nicht gelingt, das Bildungswesen durch eine Qualitätsoffensive grundlegend zu erneuern und wieder zum Vorbild für andere Länder zum machen", sagte der Deutschlandchef von McKinsey, Jürgen Kluge, zum Abschluss des zweitägigen McKinsey-Bildungskongresses am Freitag in Berlin. "Wir brauchen keine Reform, wir brauchen eine Bildungsexplosion", appellierte Kluge an die zahlreichen prominenten Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
In einem Vier-Punkte-Plan fordert McKinsey den massiven Ausbau der frühkindlichen Bildung und die konsequente Qualitätsmessung und -sicherung an Schulen. Außerdem benötigen die Bildungsinstitutionen nach Ansicht von McKinsey mehr Eigenverantwortung sowie ein milliardenschweres Investitionsprogramm für die Hochschulen, das auch durch Studiengebühren finanziert wird.
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Grundlage der Diskussionen während des Kongresses war ein Manifest zur Bildung, ein Appell führender Wissenschaftler an die Politik, das Bildungssystem an die Erfordernisse einer dynamischen Gesellschaft anzupassen. Autoren des Manifestes sind der Historiker Johannes Fried, der Soziologe Hans Joas, der Neurobiologe Wolf Singer, der Bildungsforscher Jürgen Baumert sowie der Philosoph Jürgen Mittelstraß.
Kluge verglich die Situation des deutschen Bildungssystems mit Krisen in der
Wirtschaft: "Es handelt sich beim deutschen Bildungssystem um einen Sanierungsfall." Bildung sei die volkswirtschaftlich wichtigste Investition. "Entweder gelingt es uns, mit hervorragend ausgebildeten Menschen die weltweite Deutungshoheit in den Wachstumsbereichen der Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur zu erlangen, oder das Land versinkt in Bedeutungslosigkeit, wirtschaftlich, sozial und kulturell." Kluge kritisierte das deutsche Bildungssystem als eines der schlechtesten in Europa verbunden mit einem hohen Maß an sozialer Ungerechtigkeit.
Früh investieren, anstatt spät reparieren
Als ersten Schritt fordert McKinsey 270.000 neue Krippen- und 680.000 weitere Ganztagesplätze in Kindergärten. Derzeit gehen in Deutschland zwar 89 Prozent der Kinder ab drei Jahren in einen Kindergarten. Aber nur für 25 Prozent gibt es ganztägige Betreuungsangebote. Krippenplätze stehen nur für 7 Prozent der Unter-Dreijährigen zur Verfügung. Ebenso mangelt es nach Ansicht von McKinsey deutlich an der pädagogischen Qualität der Kindertagesstätten und der Ausbildung des Personals.
Deshalb sei es notwendig, die Förderung von Kindergärten an Qualitätskriterien und unabhängig von der Trägerschaft auszurichten. Dann wäre es auch für private Anbieter attraktiv, Kindergärten zu betreiben. Parallel sollten Kindertagesstätten zukünftig nach nachgefragten und nicht nach angebotenen Plätzen gefördert werden. Zur Verbesserung der frühkindlichen Bildung seien auch eine höhere Qualifikation sowie höhere Gehälter für Erzieher und Erzieherinnen und der Aufbau von integrierten Angeboten zur Unterstützung von 60.000 sozial schwachen Kindern notwendig.
Der Finanzbedarf dieser Reformen beläuft sich nach Berechnungen der Unternehmensberater auf rund 4 Milliarden Euro. Diese Summe entspreche genau der Kindergelderhöhung im Jahr 1999, betonte Kluge und schlug entsprechende Umschichtungen vor.
Konsequente Qualitätsmessung und -sicherung
Zur Verbesserung der Qualität vor allem in Schulen spricht sich McKinsey für die systematische, flächendeckende und jährliche Messung von Schülerleistungen aus. Die vergleichenden Studien von PISA und TIMSS kämen dieser Forderung nur punktuell nach. Der Beschluss der Kultusministerkonferenz zur Festlegung nationaler Bildungsstandards weise zwar in die richtige Richtung, gehe aber nicht weit genug. McKinsey schlägt deshalb jährlich einheitliche Tests in den Kernfeldern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und eine Fremdsprache für alle Schulen flächendeckend vor, ergänzend dazu Inspektionen der Schulen vor Ort.
Mehr Freiräume für Bildungsinstitutionen
Nach Ansicht von McKinsey sind die Schulen in Deutschland deutlich überreguliert. Anreize zu verstärktem Engagement gebe es kaum. Variable, leistungsabhängige Gehaltsbestandteile fehlten völlig. "Künftig sollten die Schulen und Lehrer selbst entscheiden, mit welchen Methoden und Inhalten sie die vorgegebenen Lernziele erreichen wollen", sagte Kluge. Die Schulleitung müsse Personalentscheidungen von der Einstellung, über die Personalentwicklung bis hin zur Entlohnung eigenständig treffen können. Stärkere Leistungsanreize für Lehrer könnten ein wesentlich motivierender Faktor sein. In Neuseeland z.B. machen Kluge zufolge Bonuszahlungen bereits 38 Prozent der Vergütungen aus, im OECD-Schnitt 11 Prozent. Solche Leistungsanreize fehlten in Deutschland fast vollständig.
Bildung als Investition verstehen und Investitionen fördern
Zur Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Hochschulen spricht sich McKinsey für die Einführung von Studiengebühren aus, deren Höhe von den Hochschulen selbst festgelegt werden solle. Als Richtlinie empfehlen die Unternehmensberater eine Summe von 2.000 bis 4.000 Euro im Jahr, die den Hochschulen direkt zufließen sollten. Zusätzlich sprach sich Kluge für die Einführung von Trimestern aus, um die Hochschuleinrichtungen besser auszulasten und die Studienzeiten zu verkürzen.
Zeitgleich mit der Einführung von Studiengebühren muss nach Ansicht von McKinsey die Förderung verändert werden. Allen Studenten sollte künftig zur Finanzierung der Studiengebühren ein Bildungsdarlehen unabhängig vom Einkommen der Eltern angeboten werden. Der Zinssatz sollte dabei deutlich unter der Verzinsung der Bundesanleihe liegen. Die Rückzahlung erfolge über die Einkommenssteuer. Die Fortsetzung der Darlehenszahlung ist nach diesem Modell, das in Neuseeland erfolgreich praktiziert wird, an den Nachweis des Studienfortschritts gekoppelt.
Eine Modellrechnung von McKinsey geht bei 3.000 Euro Studiengebühren im Jahr von zusätzlichen Einnahmen für die Hochschulen in Höhe von 4,2 Milliarden Euro aus. Das vorgeschlagene Darlehensprogramm zur Finanzierung der Studiengebühren kostet den Staat schätzungsweise jährlich rund 1,5 Milliarden Euro. Diese Kosten entstehen durch die Zinssubventionen in Höhe von 200 Basispunkten und den möglichen Ausfall von Krediten. Diesen Kosten steht nach Berechnungen der Berater jedoch ein Nutzen von rund 2 Milliarden Euro jährlich entgegen als Folge einer Verkürzung der Studiendauer.
Den Vorwurf, dass dadurch sozial benachteiligte Studenten künftig vom Lehrbetrieb ausgeschlossen werden, begegnete Kluge mit dem Argument: "Der durchschnittliche Hochschulabsolvent benötigt bei einer um knapp vier Prozent erhöhten Einkommenssteuer zehn Jahre zur Rückzahlung. Seine monatliche Belastung liegt in dieser Zeit bei anfänglich etwa 100 Euro im Monat und steigt mit dem Gehalt auf maximal 200 Euro an." Dies sei vertretbar, wenn man bedenkt, dass sich die Investition Studium für den einzelnen Studenten schon heute mit 7 Prozent verzinst. In den führenden Hochschulnationen mit Studiengebühren USA und Großbritannien sei diese Verzinsung mit über 17 Prozent noch deutlich höher.
Der Kongress ist der Höhepunkt der Initiative McKinsey bildet. Sie wurde im vergangenen Jahr von der Unternehmensberatung gestartet. Im Rahmen von sechs Werkstattgesprächen diskutierten renommierte Wissenschaftler mit Studenten und Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur über Grundzüge einer Bildungsreform in Deutschland. Ihre Erkenntnisse sind in einem Manifest zusammengefasst mit dem Titel "Die Zukunft der Bildung" (erscheint bei der edition suhrkamp Mitte September). Auf dem Kongress wurde dieses Buch erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Manifest lehrt nach Ansicht des McKinsey-Chefs vor allem eines: "Jedes Reformbemühen muss auf einem Fundament stehen, das breiter ist als institutionelle Strukturen und gewichtiger als finanzielle Überlegungen. Dieses Fundament ist das Wissen um die Funktion von Bildung und Kultur als Kitt unserer Gesellschaft."
Weitere Informationen zur Initiative McKinsey bildet. und zum Kongress finden Sie auch im Internet unter www.mckinsey-bildet.de .
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