Rheinischer Merkur 19 09 02
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GEWALT AN SCHULEN / Bopparder Gymnasiasten diskutieren über Morton Rhues neuen Jugendroman
"Ich knall euch ab!"
Littleton und Erfurt können sich überall wiederholen, solange Desinteresse und banale Äußerlichkeiten den Alltag beherrschen.
Autor: BIRGITTA MOGGE
Morton Rhue: Ich knall euch ab!
Ravensburger TB 58172.
160 Seiten, 4,95 EUR (ab 15 Jahre).
Er wolle Schüler zum Denken anregen, sagt der amerikanische Autor Morton Rhue, wenn er erklären soll, warum er Bücher wie "Die Welle" oder "Ich knall euch ab!" schreibt. Bücher also, die reale Vorfälle an Schulen aufgreifen und sie, literarisch verdichtet, zu Exempeln dafür machen, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. "Die Welle", seit 1984 auf dem deutschen Buchmarkt und fast ebenso lange engagiert diskutierte Schullektüre, handelt von einem Faschismusexperiment an einer High School in Palo Alto/USA, das beinahe außer Kontrolle geriet und nicht nur in den Köpfen der damals involvierten Schülerinnen und Schüler tiefe Veränderungen bewirkte.
Tatsächlich ist ja die Frage, was Konformitätsdruck, Hass, Vorurteile und Machtausübung in und mit Menschen anrichten, so aktuell wie eh und je. Die Zehntklässler des Bopparder Kant-Gymnasiums kennen "Die Welle" und das unangenehme Gefühl, in einer vergleichbaren Situation vielleicht nicht selbstbestimmt zu reagieren. Sich wegzuducken statt aufzustehen. Mitzumachen statt nachzufragen. Deshalb haben sie auch nicht erwartet, dass Rhues neuer Roman, "Ich knall euch ab!", bequeme Unterhaltung sein würde. Im Gegenteil. Schon der Titel zerrt das Massaker, das der Erfurter Gymnasiast Robert Steinhäuser am 26.April 2002 an seiner Schule angerichtet hat, nach ganz vorn ins Bewusstsein. Umso offener sind die Jungen und Mädchen für mögliche Erklärungshilfen, wann etwa Anderssein oder Aggressivität wirklich zum Problem werden.
Anerkennung muss sein
Ist ein bisschen Mobbing okay? Herumschubsen erlaubt, solange niemand ernsthaft zu Schaden kommt? Thomas und Lisa oder Svenja sind mit ihren Klassenkameraden einig: grundsätzlich nein. Wobei sie wissen, dass es nie nur friedlich-freundlich zugehen wird, gar nicht zugehen kann, weil Temperamente und Ansichten der Leute unterschiedlich sind und immer mal "aufeinander knallen". Und auch, weil es echt fiese Charaktere gibt, mit denen man nichts zu tun haben will. Das können solche Sport-Cracks sein wie der Football-Star Sam in Rhues Roman, der weniger sportliche Schüler herumschubst und demütigt, oder betonte Außenseiter wie Gary und Brendan, die den Drill "auf engstirnige Erwartungen" ablehnen.
Die Bopparder Schüler zeichnen eine Gewaltspirale, die von dem Punkt ausgeht, der für sie der entscheidende ist: fehlende Freundschaft, fehlende Anerkennung. Die "Starken" grenzen die "Schwachen" aus. Es kommt zu Prügeleien, Demütigungen, Diffamierungen und schraubt sich zu unkontrollierten Wutausbrüchen hoch, die in Gewaltexzessen eskalieren können. Der mörderische Amoklauf zweier Schüler in Littleton/Colorado 1999, die Bluttat in Erfurt vor knapp fünf Monaten - Morton Rhue zieht in seinem Vorwort zu "Ich knall euch ab!" die Verbindungslinie: "Die Geschichte in diesem Buch ist ausgedacht. Nichts - und alles - daran ist wirklich passiert."
Vier Jahre Wut
Und das war passiert: Am 20.April 1999, dem 110. Geburtstag von Adolf Hitler, ein mit Bedacht gewähltes Datum, erschossen zwei Schüler der Columbine High School in Littleton zwölf Schüler und einen Lehrer und brachten sich schließlich selbst um; 23 Personen hatten sie zum Teil schwer verletzt. Ihr Motiv: Wut. Wut auf die Familie, die Lehrer, die Klassenkameraden, auf alle. "Wenn ihr nur diese Wut sehen könntet, die ich in den vergangenen vier verfickten Jahren aufgebaut habe!", fordert einer der beiden Jungen dazu auf, endlich mal genau hinzuschauen, wer er ist. Und auf dem letzten Videofilm, den die Teenager kurz vor dem Massaker über sich gedreht haben, sagt er lapidar: "Ich habe das Leben nicht sehr gemocht."
Morton Rhue hat für "Ich knall euch ab!" die Columbine-Tragödie und viele andere Schießereien an amerikanischen Schulen sorgfältig studiert und nach den Ursachen für solche Gewaltakte geforscht. Seiner Ansicht nach gibt es vier "Hauptverantwortliche" für den Anstieg von Frust und Gewalt unter Jugendlichen. Erstens die Medien, die gefährliche Beispiele bieten und die Identifikationsbasis mit aggressiven Handlungen vergrößern. Zweitens die - jedenfalls in den USA problemlose - Verfügbarkeit von Schusswaffen. Drittens die schwierigen beziehungsweise zerfallenden Familienstrukturen, sodass kaum mehr Zeit für Kinder bleibt. Viertens die quasi Selbstverständlichkeit von Mobbing, also von psychischer und verbaler Gewalt unter Kindern und Jugendlichen.
Die Schüler können dazu nur nicken. Stimmt alles, bestätigen sie, außer dass es in Deutschland nicht so einfach ist, an Schusswaffen heranzukommen. Da bräuchte man schon einen Vater, der Waffen besitzt und sie nicht sorgfältig wegschließt. Oder man müsste, wie der Erfurter Amokläufer Robert Steinhäuser, Mitglied im Schützenverein sein. Doch dann stocken die Jugendlichen. Meißen fällt ihnen ein, wo ein Fünfzehnjähriger seine Lehrerin
erstach; Bad Reichenhall, wo ein Sechzehnjähriger vier Menschen und sich selbst erschoss; Köln, wo ein Sechzehnjähriger seinen Lehrer mit einer Gaspistole attackierte. Auch in Deutschland ist Schule kein geschützter Ort.
Einer der Zehntklässler hat, was in Erfurt und Littleton - beziehungsweise Middletown, so nennt Rhue den Tatort von "Ich knall euch ab!" - passierte, in ein Gedicht gefasst. Die Schlusszeilen lauten: "Und Kinder werden Mörder/ Die ungeliebt losschießen." So war es. Die "Columbine-Killer", die sich ursprünglich mit der Schule in die Luft sprengen wollten, hatten alle und alles gründlich über. "Ich gehe zu einem besseren Platz", lässt einer der beiden seine Eltern wissen.
Auch Rhues Protagonisten sind fertig mit dem Leben. Aber zumindest in Garys Abschiedsbrief an seine Mutter ("Liebe Mom") klingt neben tiefer Hoffnungslosigkeit ein verqueres Verantwortungsbewusstsein mit: "Wenn ich bei meinem Abgang die Leute mitnehme, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben, dann kommt vielleicht eine Botschaft rüber. Vielleicht ändert sich dann etwas, und irgendwo wird irgendein anderer Junge, der so unglücklich ist wie ich, besser behandelt und findet vielleicht einen Grund weiterzuleben."
Zugegeben, da schnellt der pädagogische Zeigefinger zu hoch. Aber die Bopparder Schüler monieren nicht ein einziges Mal, dass Klischees oder Kitsch oder Moralin dick daherkämen. Im Gegenteil. Ihre Schlüsselwörter für ein gelingendes Leben sind Liebe, Geborgenheit, Respekt, Toleranz. Auf einer Collage machen sie das plakativ deutlich: Links einer dicken Mauer steht ein abgestorbener Baum vor düster-rotem Hintergrund, die Wurzeln in tief dunklem Wasser, trauernde, gepeinigte Menschen drängen sich zusammen; rechts entfaltet ein starker Baum seine Krone, um ihn herum frühlingshaftes Grün, lachende, entspannte Menschen. Nur einer der Gepeinigten wehrt sich und versucht, die Mauer zu durchbrechen. "Es gelingt", sagt Lisa, man darf nicht aufgeben. Und es gelingt umso eher, wenn von der anderen, der "positiven" Seite jemand hilft.
Das wäre ein schönes Schlusswort. Aber so locker mögen die Zehntklässler denn doch nicht über Probleme hinweggehen. Zwar sehen sie ihr eigenes Dasein nicht gefährdet und trauen sich auch zu, sich im Schulalltag zu behaupten. Und die Lehrer, heißt es anerkennend, "greifen bei einem Streit oder Kampf direkt ein". Aber die Teenager kennen auch Gruppenzwang und Cliquenbildung, und sie haben sich auch schon als unterlegen erfahren, wenn ein Lehrer spöttisch oder sarkastisch reagiert. Aber immerhin, er reagiert, schaut nicht einfach über sie hinweg. Die Jugendlichen können damit weiterleben, verbuchen die Ungerechtigkeit irgendwann unter "menschliche Schwäche".
Exakt nach Szenario
Dagegen sind für Gary und Brendan ignorante Lehrer Schulalltag. "Die wissen genau, was da läuft", schreibt Brendan in einer E-Mail, aber sie tun nichts gegen gemeine Sprüche, Rempeleien und brutale Gewalt. Die Lehrer haben zudem noch "zwei verschiedene Arten von Regeln. Die einen gelten für die beliebten Schüler, die anderen für die unbeliebten". Im Klartext: Was den Lieblingen "sozusagen einen kleinen Klaps" einbringt, wird bei den anderen "mit einer öffentlichen Demütigung" geahndet.
Klares Votum der Kant-Schüler, so etwas nie zuzulassen. Eine Art Mitleidseffekt mit den Außenseitern baut sich auf. "Sie hatten nie eine Chance", sagt Till. Mag sein, dass Morton Rhue auf diese Reaktion spekuliert hat. Denn in seinem Roman sind die Täter letztlich nicht so kaltblütig wie das reale Vorbild. Zwar halten sie sich an das Szenario: Schüler und Lehrer werden in der Aula eingesperrt, deren Ausgänge mit selbst gebastelten Bomben
blockiert; zwar schießen die Jungen gezielt - aber sie töten niemanden. Am Ende gibt es nur einen Toten: Gary, der sich selbst umbringt. Und einen lebensgefährlich Verletzten: Brendan, der von Schülern überwältigt und ins Koma geprügelt wird. Laut Buch ist sein Gehirnschaden irreversibel.
Ein Schluss, der einigen Zehntklässlern zu soft ist. Sie lassen Brendan aus dem Koma erwachen und eine glasklare Erklärung abgeben "an alle, die wünschten, ich wäre gestorben": "Wenn ihr wollt, dass ich Reue zeige, muss ich euch enttäuschen. Ich tue es nicht. Im Gegenteil. Mit eurem Verhalten habt ihr mich davon überzeugt, dass ich Recht hatte."
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