NZZ 20 09 02

http://www.nzz.ch/2002/09/20/fe/page-article8EAB3.html

«Wir sind nicht für perfekte Lebensläufe»
Italiens erster Strassenlehrer und ein Schul-Buch
In Italien will die Regierung Berlusconi die Schulpolitik nach ihrem Massstab ausrichten. Doch zum Beginn des neuen Schuljahres regt sich Widerstand. So will ein Lehrerkollektiv mit einem Buch die Diskussion über das Schulsystem Italiens neu entfachen.


«La Scuola deve cambiare», so der Titel eines unlängst in Neapel publizierten Buchs. Dass sich die Schule ändern müsse, dachte auch die italienische Bildungsministerin Letizia Moratti, doch ihre Reform wurde von der Regierung einstweilen zurückgestellt. Stattdessen soll es in zweihundert Schulen des Landes einen Probelauf der Reform geben, die von den Kritikern als eher rückwärts gerichtet angesehen wird. Ihr Hauptargument: Die Schüler müssten sich schon früh darauf festlegen, ob sie später studieren oder eine praktische Ausbildung wahrnehmen wollten. Ausserdem, so die Opposition, sei das vorrangige Ziel der Reform, den Staatshaushalt weniger zu belasten.

Eine ganz andere, eigene Sicht auf das Schulwesen Italiens hat seit Jahren der erste Strassenlehrer Italiens, der Neapolitaner Marco Rossi- Doria. Er gehört zu den mittlerweile 27 aus dem üblichen Schulbetrieb ausgegliederten Lehrkräften, die unter dem Namen «Projekt Chance» mit einigem Erfolg in sozialen Brennpunkten arbeiten, und hat zusammen mit weiteren Kollegen das erwähnte Buch herausgegeben (Anna Maria Ajello, Paola di Cori, Lucia Marchetti, Clotilde Pontecorvo, Marco Rossi-Doria: La scuola deve cambiare. L'Ancora del Mediterraneo, Napoli 2002).

Rossi-Doria muss immer dann handeln, wenn etwa die Schulpflicht den Schülern völlig egal geworden ist oder wenn das Schulsystem nicht mehr greift. Er erzählt den Fall eines Jungen, der nur Bücher über Motoren las. Damit konnte sie ihn allerdings nicht zum Lernen bringen. «Wir haben uns dann mit ihm ganz auf die Motoren konzentriert, sind in die theoretische, physikalische und chemische Erklärung des Motors eingestiegen bis hin zum Design und haben ihm dabei auch das andere Wissen vermittelt. Heute arbeitet er in einer Motorenfabrik, und die Wunde, zu früh mit dem Arbeiten begonnen zu haben, wird ihm wohl bleiben. Wir sind aber nicht für perfekte Lebensläufe, sondern für das Leben.»

Berufsschüler in der Produktionskette
Solche Erlebnisse gehören zu Rossi-Dorias täglicher Arbeit. Der Bildungsalltag italienischer Berufsschüler sieht zwar anders aus, wird von vielen ihrer Lehrer aber ebenfalls als «extrem» empfunden. So verzweifelte Lia Polcari fast, als sie Schülern aus dem Hinterland Neapels etwas über Literatur beibringen wollte. Ihr frustriertes Fazit nach längerer Beschäftigung mit Melvilles «Moby Dick»: «Unmöglich, tief zu gehen. Man bleibt auf dem reinen Handlungsniveau der Geschichte, wie aus dem Fernsehen gewohnt.»

Laut Rossi-Doria will die Regierung Berlusconi die Massstäbe der wirtschaftlichen Effizienz nun auf die Bildung anwenden. Indessen sollte die Schule mehr das Denken lehren als das Produzieren - so die kürzeste Zusammenfassung des Buches von Rossi-Doria und seinen Kollegen. «Wenn Pirelli oder eine andere grosse Firma in Italien, England oder Amerika 20 Prozent des Etats in Nachwuchsförderung und Forschung steckt, dann weiss ich nicht, warum ein gesellschaftliches Gemeinwesen dies nicht auch kann.» Offenbar weil sich die Resultate dieser Investition nicht direkt in der laufenden Legislaturperiode bemerkbar machen, der Spareffekt aber schon. Und möglicherweise weil die Schulreform auch darauf ausgerichtet ist, spezielle Schulen und solche mit besonders hohem Leistungsniveau zu privatisieren, während etwa die Gymnasien sich in unterschiedliche Fachrichtungen spezialisieren sollen.

Der Widerstand der italienischen Lehrer richtet sich nicht nur gegen die Reformpläne der Regierung. Die Autoren stimmen deren Kritik am erstarrten System sogar zu. Sie möchten der italienischen Schule der Zukunft aber etwas von ihren speziellen Erfahrungen aus sozialen Brennpunkten vermitteln. «Diese Erfahrungen sollten nicht dazu führen, lauter Spezialschulen einzurichten. Stattdessen müssten die bestehenden Schulen beginnen, sich mehr auf alle Jugendlichen zuzubewegen. Bildung ist für sie keine Option, sondern ein Recht.» Eines freilich, das viele Schüler vielleicht schon verloren haben, bevor sie sich dessen bewusst werden. In der italienischen Verfassung jedenfalls gewährt Artikel 5 den italienischen Staatsbürgern das Recht, sich bis zum 18. Lebensjahr so umfassend wie möglich zu bilden. Auf dieses Recht werden die Autoren des Buches pochen bei ihren zum Schulbeginn geplanten Aktionen.

Streik zum Auftakt
Doch die idealisierten - wenngleich nicht unrealistischen - Vorstellungen des Lehrerkollektivs hatten kaum etwas zu tun mit den Motiven der lombardischen Lehrer, die am ersten Schultag erst einmal streikten. Der Schulbeginn in Italien zieht sich über die verschiedenen Regionen bis in die zweite Septemberhälfte hin; die Lombardei machte den Anfang, und die Hälfte der ersten Stunden fiel hier dem Streik zum Opfer. Einem Erklärstreik, den das Kollegium nutzte, um den irritierten Eltern darzulegen, wie sich manche Reformbestandteile auf die Zukunft ihrer Kinder auswirken würden. So sollen, ganz pragmatisch, etwa 1000 von 1200 Fördermassnahmen für Schüler gestrichen
werden; und während der ersten Schuljahre soll wieder ein einziger Lehrer anstelle von deren drei zum Einsatz kommen. - Eigentlich hatte sich die Bildungsministerin Moratti diese Erklärungsphase selbst vorbehalten. Doch ihr Plan einer testweise durchgeführten Probereform zündete den politischen Protest zum Schulbeginn. Nachdem zunächst der Ministerrat das ursprüngliche Reformpapier zum Nachbessern an die Bildungsministerin zurückgegeben hatte, meldete sich kürzlich der Nationale Bildungsrat mit einem sehr kritischen Kommentar und der Aufforderung, auch die veränderte Version noch einmal zu überarbeiten. Eine Forderung, der sich mittlerweile die Gewerkschaften und der Verband italienischer Kommunen angeschlossen haben. Zurzeit ist weder eine Reform auf Probe noch eine Reform überhaupt vorstellbar; und der Widerstand lässt sich bereits in der italienischen Gilde der Lehrer spüren. Ihr Sprecher Alessandro Ameli: «Eine tiefe Unzufriedenheit der Lehrer, deren Verträge oft abgelaufen und noch nicht verlängert sind, verbindet sich mit dem Widerwillen gegen dieses improvisierte Experiment zur falschen Zeit.» Grund genug, für den 14. Oktober einen nationalen Schulstreik auszurufen - gegen die Reform, aber auch gegen die Ministerin Moratti.

Frank Helbert






--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.