(Ein sehr christlich-abendländischer Text, der einige interessante Ansätze enthält, meint T.D.)
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Rheinischer Merkur 04 10 02 Teil 1
http://www.merkur.de/aktuell/mp/bi_024001.htm
ERZIEHUNG
An welchen Kriterien sollte sich die Planung eines Bildungssystems ausrichten?
Alles, was zu wissen ist
Die Veröffentlichung der beiden Pisa-Studien hat verfrühten Aktionismus ausgelöst. Jetzt ist Zeit, nach dem Nutzen und den Grenzen zu fragen.
Weltoffen: Niemand kann das Ganze lernen. Umso wichtiger ist, den Überblick zu lehren.
Autor: VOLKER LADENTHIN
Das pädagogische Handeln gehört zu den wenigen Pflichten, die mit dem Menschsein selbst gegeben sind. Wir befinden uns als Menschen immer schon in einem pädagogischen Verhältnis - so, wie wir immer schon handeln, sprechen und denken. Das pädagogische Verhältnis liegt aller Kultur voraus, ist ubiquitär.
Mit der Pisa-Studie erhebt die empirisch ausgerichtete Erziehungswissenschaft den Anspruch, das Bildungssystem zu beschreiben, Ursachen für die Feststellungen auszuweisen und Vorschläge zur Reform des Bildungswesens vorzubereiten. Pisa will der zahlenuntermauerte Hinweis darauf sein, dass man etwas nicht nur gut meinen, sondern auch gut machen muss.
Zwei Probleme schränken den Nutzen einer empirischen Studie ein.
Erstens: Im pädagogischen Bereich können Aussagen über Schulleistungen nicht kausal-analytisch, nicht nach dem Ursache- und Wirkungsprinzip erklärt werden, denn die zum Lernen erforderlichen Vernunftleistungen folgen in einem bisher nicht ausgeloteten Anteil der Willensfreiheit der Beteiligten.
Zweitens: Es wäre ein naturalistischer Fehlschluss, aus Fakten künftige Handlungen ableiten zu wollen. Ein Beispiel: Ob man nach einer negativ verlaufenden Evaluation die Förderung verstärkt oder das Niveau senkt, ist aus den Daten selbst nicht zu begründen.
Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung müssen wechselseitig aufeinander bezogen sein. Denn jede Tatsachenforschung hat normative Vorgaben, die mit Tatsachen allein nicht begründet werden können, sondern erst deren Erhebung ermöglichen. Andererseits muss sich jede normative Forderung mit empirischen Sachverhalten auseinander setzen, wenn sie praktisch werden will.
Pädagogisches Paradox
Wenn nun Bildung die Führung der Vernunft zu sich selbst ist, dann darf Bildungsplanung sich nicht auf organisatorische Maßnahmen reduzieren. Ganztagsschule, Abitur nach zwölf Jahren, selbst verwaltete Schule sind nicht das Zentrum des Bildungsproblems. All diese Maßnahmen à la McKinsey erreichen es nicht einmal. Bildungsplanung muss sich also zuvörderst auf Unterricht und Erziehung richten, auf die Qualität der einzelnen Unterrichtung, zum Beispiel auf das pädagogische Verhältnis zwischen dem Lehrenden und seinen Schülern.
Die Bildungsplanung steht vor einem Problem, das man weder mechanistisch noch funktionalistisch lösen kann: Sie muss Bildungsgänge konstruieren, die die Absolventen mit Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten für eine Zeit ausstatten, die noch niemand kennt. Dies ist das pädagogische Zukunftsparadox.
In den traditionalen Gesellschaften lernten die Kinder in Haus und Schule für eine Zukunft, die sich nur in Details von ihrer Lerngegenwart unterschied. Der Lehrplan des geistigen Abendlandes bestand nahezu über 2000 Jahre aus den septem artes liberales. Seit 200 Jahren leben wir mit der Beschleunigung von Modernisierungsprozessen. Dadurch hat sich das Problem der Zukunftsungewissheit gegenüber früheren Zeiten erheblich verschärft.
Man hat versucht, das pädagogische Zukunftsparadox mit den Ergebnissen der
Trend- oder Zukunftsforschung zu lösen. Aber Trendaussagen und Prognosen extrapolieren nur die Gegenwart. Sie garantieren nicht, dass das, was sie voraussagen, auch sicher eintrifft. Weil der Mensch sich frei entscheiden kann, vermag niemand in die Zukunft zu schauen. Weil dies so ist, kann es keine Bildungsplanung geben, die ihre Maßnahmen aus dem ableitet, was prognostiziert wird. Das gelingt auch nicht mit Utopien. Hierbei wird der Lehrplan der Gegenwart aus dem Entwurf einer Zukunftsidylle abgeleitet. Solche Planungen verfügen über das Leben der Menschen, das diese doch erst selbst leben und verantworten wollen. Deshalb darf es keine Bildungsplanung geben, die ihre Maßnahmen aus dem legitimiert, was für irdisch-paradiesische Zukunft erträumt wird.
Um das Ziel eines auf die Zukunft ausgerichteten Bildungssystems zu bestimmen, fragt man in der Regel: Wie bereiten wir unsere Kinder darauf vor, in der Zukunft zu bestehen?
Wer so fragt, gerät in das erwähnte Zukunftsparadox, weil er die Zukunft als etwas ansieht, an das sich unsere Kinder anzupassen hätten. Genau das aber ist sie nicht. Zukunft ist etwas, was gemacht wird - und zwar von der nachfolgenden Generation.
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