Süddeutsche 04 10 02

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Das Krippenspiel der Politik

Die Familienpolitik von Rot-Grün bleibt auf halbem Weg stehen – die der Union ist auf dem Irrweg

Von Jeanne Rubner

Wenn Politiker sich besonders volksnah geben wollen, dann herzen sie gerne öffentlich Kinder. Den kleinen Jungen, den der Bundeskanzler auf seinem Weg zu den Koalitionsverhandlungen (Thema: Bildung und Familie) traf, hat er zwar nicht geknuddelt, sondern nur kurz angesprochen. Er dürfte ihm von der Symbolik her aber gerade recht gekommen sein: Seht her, wie wir uns um die Kinder kümmern.

Rot-Grün verspricht mehr Kinderkrippen und Ganztagsschulen. Das ist erst einmal richtig und wichtig. Kinder stellen hier zu Lande das größte Armutsrisiko dar. Sie kosten Miete und Kleidung, sie kosten – wegen der mangelhaften Betreuungsmöglichkeiten – Arbeitszeit, in der Familien ansonsten ihr Einkommen verbessern könnten, sie kosten als Folge dessen Rentenansprüche. Übrigens gilt das auch für die „Besserverdiener“, die sich wegen der hohen Lohnnebenkosten kein Kindermädchen mehr leisten können und deshalb ebenfalls auf öffentliche Einrichtungen angewiesen sind.

Nur für sieben Prozent aller Kleinkinder gibt es Krippenplätze, nur ein Viertel aller Vierjährigen kann ganztags in den Kindergarten gehen. Ohnehin bedarf es auf dem flachen Land oder in verarmten Großstädten oft einer Portion Glück oder Beziehungen, überhaupt einen Halbtagsplatz im Kindergarten zu ergattern. Die Hoffnung von Müttern, mit dem Schulbesuch ihrer Kinder stünde ihnen die Arbeitswelt wieder offen, endet in Ernüchterung. Schulschluss am späten Vormittag, schlecht organisierte Mittagsbetreuung, die nächste Ganztagsschule 50 Kilometer entfernt oder hoffnungslos überlastet – der Alltag ermöglicht Frauen allenfalls einen Halbtagsjob.

Aber nicht nur aus privat- und volkswirtschaftlichen Gründen müssen Ganztagsangebote – ob Krippen, Kindergärten oder Schulen – ausgebaut werden. Auch die Chancengleichheit gebietet es. Denn – Pisa lässt grüßen – nicht jedes Kind hat fürsorgliche Eltern, die ihm abends Gute-Nacht-Geschichten vorlesen und Lust auf Bücher machen. Nicht jedes Kind kann zum Ballett, lernt ein Musikinstrument oder besucht am Sonntag das Naturkunde-Museum. Ganztagsbetreuung kann solche Defizite, die zwangsläufig durch soziale Unterschiede entstehen, zwar nicht wettmachen, aber doch zumindest verringern.

Geradezu absurd muten die Ängste der Konservativen an, die befürchten, dass ein besseres Angebot an Krippen und Horten die Familie zerstöre. Diese Ängste beruhen auf der verqueren Logik, Ganztagsbetreuung zwinge die Frauen in die Berufstätigkeit, die wiederum schädlich für das Familienleben sei. Dass die Kausalkette irrig ist, zeigt das Beispiel Frankreich, wo „la famille“ immer noch im Mittelpunkt der Gesellschaft steht und die Geburtenrate höher als in Deutschland ist.

Trotz guter Absichten für die Familien bleibt Rot-Grün auf halbem Wege stehen. Erstens liegt der Bedarf an Krippenplätzen weitaus höher als nur für 20 Prozent aller Kinder. Zweitens müssen auch Kindergärten ausgebaut werden; und es geht nicht nur darum, dass die Zahl der Ganztagsplätze steigt, es müssen vielmehr auch Erzieher so ausgebildet und bezahlt werden, dass Kindergärten von einer „Aufbewahrungs-“ zu einer „Bildungsstätte“ werden. Insgesamt vier Milliarden Euro veranschlagen Wirtschaftsexperten für eine halbwegs bedarfsgerechte Betreuung von Vorschulkindern, was sie als lohnende Investition in das Bildungssystem betrachten. Mit etwas Glück wird die Regierung gut eine Milliarde zusammenkratzen. Drittens muss auch noch schneller mehr Geld in Ganztagsschulen fließen. Doch gerade in diesem Punkt zeigt sich die ernüchternde Realität: Von den versprochenen vier Milliarden Euro wird die Regierung 2003 gerademal 300 Millionen Euro locker machen – und setzt ansonsten auf die Kooperation der Länder, die ihrerseits wohl wieder die finanzschwachen Kommunen in die Pflicht nehmen dürften.

Das Nachsehen werden wieder einmal die Familien haben.



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