OÖN 05 10 02
Begriffsverwirrung und die Folgen
In den OÖN vom 27. 9. erschien ein Bericht, mit dem ich etwas unglücklich war. Berichtet wurde darüber, dass im Wirkungsbereich des Wiener Stadtschulrats "Schummelzettel" erlaubt seien, während im geradlinigen Oberösterreich derlei Unfug nicht vorkäme. Der Präsident unseres Landesschulrats verwies auf das Leistungsbewusstsein der oberösterreichischen Schule, und so war im Nu - natürlich mit den Mitteln der Sprache - eine Antithese konstruiert, die überzeugend klingt, aber falsch ist: Hier das leistungsbewusste (schwarze?) Oberösterreich - dort das leistungsfeindliche (rote?) Wien.
Für den sprachkritischen Beobachter, der die reale Situation einigermaßen gut kennt, war die Sprache dieses Berichts aufschlussreich. Die Verwendung eines nicht zutreffenden Begriffs zieht ein falsches Bild der dargestellten Sache nach sich. Der Begriff "Schummelzettel" bezeichnet ein unerlaubtes Mittel, das dem Verwender dazu verhilft, Kenntnisse vorzutäuschen, die er nicht hat. Davon kann aber bei den vom Wiener Stadtschulrat tolerierten Zetteln kein Rede sein. Es geht nicht um "Schummelzettel", sondern um legale Informationsblätter, um Fakten, Definitionen, Grafiken etc., die Schülerinnen und Schüler für eine Schularbeit anlegen und bei der Arbeit verwerten können. Diese Blätter haben also eine ähnliche Funktion wie Wörterbücher oder mathematische Formelsammlungen. Kein Mensch käme aber auf die Idee, ein Deutsch-Englisch-Lexikon, dessen Verwendung mit der Frau Professorin abgesprochen ist, als "Schummelbuch" zu bezeichnen.
Ein ähnlich unzuverlässiges Bild entsteht, wenn wir aus nur einem Satz (also kurz, abstrakt und vieldeutig) erfahren, dass Wiener Schüler "Nachkorrekturen" ihrer Schularbeiten vornehmen dürfen. In konkrete Details zerlegt sieht die Wirklichkeit etwa so aus: Auch in Oberösterreich wird seit Jahren von Deutschlehrern die 2-Phasen-Schularbeit erprobt. Was heißt das? Die Schüler schreiben ihre Aufsätze, geben die Hefte ab, erhalten sie aber in der nächsten Deutschstunde unkorrigiert für etwa fünfzehn Minuten zurück, um sie aus zeitlicher Distanz noch einmal auf Schreib- und Sprachfehler zu überprüfen. Meiner langjährigen Erfahrung zufolge handelt es sich bei der 2-Phasen-Schularbeit vor allem um eine Form der Begabtenförderung. Gerade einfallsreiche und sprachbegabte Schülerinnen und Schüler, die ausdauernd schreiben, weil sie viel zu sagen haben, sind am Ende des Arbeitsprozesses erschöpft und haben dann kaum mehr Zeit, die eigene Arbeit noch einmal zu überprüfen. Das heißt, sie können genau das nicht tun, was jeder professionelle Schreiber macht, sofern er nicht unter großem Zeitdruck
steht: den eigenen Text beiseite legen, Abstand gewinnen, den Text noch einmal prüfen und bei Bedarf korrigieren. Diese Nachkorrektur ist weder
leistungs- noch wirtschaftsfeindlich, weder sozialistisch noch reformpädagogisch. Sie entspricht ganz normalen Vorgängen in der Wirklichkeit des täglichen Schreiblebens. Und wollen wir mit unseren Schulen nicht immer just dorthin, wo das wirkliche Leben pulsiert? Die Moral von der
Geschicht´: Setze den Begriff "Schummelzettel" nur ein, wenn die Sache Schummelzettel bezeichnet werden soll; und erläutere die abstrakte Wendung "Nachkorrektur" so konkret, dass deine Leser wissen, was damit bezeichnet wird.
OÖNachrichten vom 5.10.2002
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