FAZ 09 10 02

Lehrt, auf daß Lehren gezogen werden

Endlich steht die DDR-Geschichte auf dem Pflichtstundenplan

Folkloreabende mit etwas tatterig gewordenen DDR-Prominenten sichern Kulturarbeitern in der ostdeutschen Provinz immer noch ein volles Haus mit dankbarem Publikum. Vergangene Zeiten sind für manchen nur im Lichte sanfter Verklärung zu ertragen. Was aber, wenn in Schulen der 17. Juni 1953 als an sich bedeutungsloser Störfall, die Biermann-Ausbürgerung als notwendige staatliche Maßnahme ohne Alternative, der Mauerbau mit ökonomischen Zwängen erklärt, Amerika als klassischer Kriegstreiber und das DDR-Bildungssystem als Vorbild für gelungene Elitenbildung dargestellt werden?

Es hat lange, sehr lange gedauert, bis der Unmut darüber Folgen zeigte, bis die Proteste empörter Eltern, die Besorgnis früherer Bürgerrechtler und die Hilferufe von Lehrern, die das schon immer anders sahen und einen schweren Stand in ihren Schulen hatten, ernst genommen wurden. So ernst, daß mit diesem Schuljahr in fast allen ostdeutschen Ländern neue Lehrpläne gelten, die die jüngste deutsche Vergangenheit erstmals zu einem verbindlichen, also verpflichtenden Thema im Geschichtsunterricht machen, der sich zudem endlich am Stand der Geschichtsforschung zu orientieren hat und nicht am persönlichen Vermögen oder Unvermögen der Geschichtslehrer - also am 17. Juni als Arbeiteraufstand, der unter anderem berechtigte Forderungen nach freien Wahlen durchsetzen wollte und deshalb blutig niedergeschlagen wurde; am Staatssicherheitsdienst als schlimmstem Unterdrückungsinstrument der SED - und der auch darüber informiert, wie es jenen erging, die sich dem Anpassungsdruck entzogen, anders dachten als befohlen und die Opposition zur Einheitspartei wählten.

Das "heiße Thema DDR" wurde lange nicht nur häufig weichgespült oder so unterrichtet, daß die alten Ressentiments gegen alles Freie und Fremde gepflegt werden konnten. Nicht selten fiel es ganz unter den Tisch, was auf Zeitnot und dergleichen geschoben werden konnte. Es ist sicher nicht einfach, sich vor Heranwachsenden einem Thema zu stellen, mit dem auch die eigene Lebensgeschichte eng verquickt ist. Und es ist auch nicht einfach, Geschichte zu lehren, die vielleicht zu Hause, in den Familien der Schüler, ganz anders, nämlich verklärt erzählt wird. Daß aber durch Wegschauen und Ignoranz gerade die ermutigt wurden, die man 1989 eigentlich zum Teufel jagen wollte, ist nicht nur Ironie der Geschichte, sondern schon eher ein Skandal.

Die Birthler-Behörde, das Haus der Geschichte, einige Stiftungen für politische Bildung und Gedenkstätten haben jetzt mit Schulministerien Kooperationsverträge abgeschlossen, die auch hoffen lassen, daß sich mehr Lehrer den unbeqemen Seiten der DDR-Geschichte zuwenden als bisher. Es wäre naiv zu glauben, daß dem nostalgischen Spuk damit ein Ende zu bereiten ist. Aber zum ersten Mal wird auf Aufklärung gesetzt, nicht auf Zeit und Wegschauen, werden die ermuntert, die sich bisher dem Unmut ihrer Kollegen oder verbitterter Eltern ausgesetzt sahen, wenn sie ein kritisches Bild von der Nachkriegszeit im Osten vermittelten.

In Berlin hatten sich im vergangenen Jahr Lehrer, ost- wie westsozialisierte, zu einer Art Geheimbund zusammengeschlossen, um über die DDR-Kaderseligkeit in Lehrerzimmern zu sprechen und sich gegenseitig Mut zu machen. Ihre Appelle an die Schulverwaltung, endlich einzugreifen, hatten wenig Aussicht auf Erfolg - weder in bezug auf die eigene mißliche Situation, noch auf die der Schüler, um deren Erziehung nach diesem (un-)heimlichen Lehrplan sie sich sorgten. Die größte Chance, dem entgegenzuwirken, war lange zuvor verpaßt worden: In den frühen Neunzigern, als ostdeutsche Lehrer ohne Ansehen der Person und ohne nachhaltige Auflagen in den Schuldienst der neuen Republik übernommen worden waren. In Berlin, das durch die Teilung eigentlich in der komfortablen Lage gewesen wäre, die Lehrerkollegien wenigstens ostwestlich zu durchmischen, war nicht einmal das geschehen. Hier wie anderswo im Osten ging es vor allem um Angleichung der
Lehrergehälter; entmutigte man die, die im Herbst '89 angetreten waren, eine Bildungsreform durchzusetzen, weil sie das Bildungssystem der DDR für einen der wesentlichen Gründe ansahen, damals auf die Straße zu gehen.

So konnte sich fast ungestört ein nostalgisches Bild vom SED-Staat ausbreiten, in dem nicht alles schlecht gewesen war; konnten Lehrer ohne Not ihr Unbehagen an der offenen Gesellschaft weiterreichen an die nächste Generation. Wer das anders sah, wurde gemobbt. Und vor allem sprach sich
herum: Opportunismus, nicht Zivilcourage lohnt sich.

Ihren Gipfel erreichte diese unselige Entwicklung in diesem Sommer, als die Pisa-Hysterie, gestützt von verblüffender Unkenntnis der DDR-Realität, Honeckers Einheitsschulprogramm zum besten aller möglichen Bildungssysteme adelte. Verblüffend auch, daß sich die darüber einsetzende Diskussion weit hinter das zurückbewegte, worüber sich - zumindest im Osten - spätestens seit 1988 alle im klaren waren, die die Ursache und Wirkung von Unmündigkeit und staatlicher Einflußnahme gerade über die Schule kannten. Für die nicht die schlichten Gegenargumente dieses Sommers - Erinnerung an "Fahnenappell" oder "Margot Honecker" als personifizierter Schrecken - gezählt hatten, sondern der hohe Preis, den eine Gesellschaft zahlen muß, die einem derart repressiven Erziehungssystem ausgesetzt ist. Ostdeutsche, deren Glück nicht darin bestand, daß Kinder frühzeitig Ordnung und Disziplin zu verinnerlichen hatten und denen der Zentralismus alles so überschaubar gemacht hatte, sondern Ostdeutsche, deren Unglücklichsein über mangelnde humanistische Bildung, die Verunglimpfung zivilen Ungehorsams und die Paukschule sich schließlich entlud im Volkszorn des Wendeherbstes. Der eben unter anderem auch deshalb von Erfolg gekrönt war, weil er ein nicht reformierbares System der Bildung und Erziehung abzuschaffen versprach.

Es wäre zu hoffen, daß sich mit diesen Schritten auf ein insgesamt realeres DDR-Bild hin auch in den Schulen sogar diese Konfusion erledigt. Lange sah es so aus, als würde sich vieles erst ändern, wenn in Ostdeutschland eine bestimmte Lehrergeneration das Pensionsalter erreicht. Wenn diesen freien Raum junge Pädagogen, anders ausgebildet und anders sozialisiert, mehrheitlich besetzen könnten. Daß sich diese zuweilen noch sehr geschlossene Welt nun doch schon vorher zu öffnen beginnt, stimmt optimistisch. Vor allem mit Blick auf die heranwachsende Generation, für die die DDR bereits ein sehr fernes, nie gesehenes Land geworden ist.

REGINA MÖNCH

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2002


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