Frankfurter Rundschau 09 10 02

Der Wettbewerb könnte in die Schulen einziehen

Die amerikanische Diskussion um Bildungsgutscheine ist neu angefacht worden / Von Michael Zöller TEIL 1

Wenn es in den nächsten Jahren jenseits der Pisa-Debatte ein bildungspolitisch heißes Eisen gibt, dann das der Umstellung der Finanzierung von Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Warum die Diskussion um Bildungsgutscheine in den USA neue Nahrung erhält, analysiert Michael Zöller, Professor für politische Soziologie an der Universität Bayreuth und Vorsitzender des Council on Public Policy, eine deutsch-amerikanische Vereinigung für vergleichende Politikforschung. Die Argumente pro und contra Gutscheine stellt Jens Lemke, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bayreuth, vor. Dem Thema "Wahlfreiheit und Wettbewerb im Bildungswesen" widmet sich am 10. und 11. Oktober in Washington eine Tagung, die das Bayreuther Forschungsinstitut gemeinsam mit der Frankfurter Rundschau und der Friedrich-Naumann-Stiftung veranstaltet.

I. Ein Urteil des Obersten Gerichts, das an Grundfesten rüttelt

Bevor ganz Washington in die Ferien ging, hat das oberste Gericht der USA eines jener Urteile verkündet, die weit über den konkreten Anlass, in diesem Falle einen bildungspolitischen Streit, hinausreichen. Die Entscheidung des Supreme Court in Sachen Zelman versus Simmons-Harris wird die amerikanischen Schulen und das amerikanische Verfassungsrecht verändern. Und sie wird auch die künftige Diskussion um den Wohlfahrtsstaat in Europa wie in Amerika beeinflussen.

Derart weitreichende Voraussagen kann man riskieren, weil das Gericht nicht nur die Frage beantwortet hat, ob eine Maßnahme der Schulbehörden von Cleveland/Ohio mit der Verfassung vereinbar war, sondern weil es dabei die Wahlfreiheit des Einzelnen als ein Prinzip herausgestellt hat, das alle anderen Interessen überragt. Das klingt zunächst so amerikanisch wie nur etwas, wie eine bloße Umschreibung des amerikanischen Credos, aber es führt in die Interpretation der Verfassung und damit in die Politik einen Maßstab ein, der nicht nur den "altmodischen Progressiven", also den Befürwortern der Staatstätigkeit, sondern auch den konservativen Vorstellungen der jetzigen Mehrheit der Richter Probleme bereiten wird.

In diesem Beitrag sollen zunächst fünf Aspekte beleuchtet werden. Es geht dabei um:

- Die Besonderheiten des amerikanischen Schulsystems. Worin unterscheiden sich die Organisation und die Finanzierung, aber auch die Schulpolitik?

- Der verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Hintergrund. Wie kam die Schulpolitik von Cleveland/Ohio vor das Verfassungsgericht und weshalb bedeutet dessen Entscheidung eine Abkehr von der bisherigen Verfassungsdoktrin?

- Die ordnungspolitische Bedeutung, also die Diskussion um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. Was bedeutet es, wenn nicht mehr die Institutionen (z. B. Schulen), sondern deren Nutzer subventioniert werden (Subjekt- statt Objektförderung)?

- Die vorhersehbaren Schwerpunkte der künftigen Diskussion. Wenn der Übergang zur Subjektförderung mehr Wettbewerb erzeugt, wie steht es dann mit der Vergleichbarkeit der Leistungen, also der Qualitätskontrolle?

II. Direkte Demokratie und das Nebeneinander von Privaten und Öffentlichen Schulen

Auch in den Auseinandersetzungen um Gutscheine haben zwei besondere Kennzeichen des amerikanischen Schulwesens eine Rolle gespielt, nämlich die lokale Verankerung und das Nebeneinander von öffentlichen und privaten Einrichtungen.

"All politics is local" - Amerikaner erinnern gerne daran, dass Politik vor Ort passiert und sich um örtliche Interessen dreht, und diese Verortung wird nach wie vor durch die starke Stellung der Gebietskörperschaften, der cities und counties und durch deren finanzielle Autonomie gestärkt.

Das hat zwei Folgen für die öffentlichen Schulen: Erstens gilt die Faustregel, dass "reiche" Gemeinden "gute" Schulen haben, und da die Einnahmen der Gemeinden fast ausschließlich aus der Grundsteuer stammen, sind höhere Steuern und gute Schulen ein Kennzeichen der Vororte, während für die Innenstädte das Gegenteil gilt.

Zweitens aber wird die Schulpolitik zu einem Paradebeispiel für die Vor- und Nachteile der direkten Demokratie. Schulverwaltung und Schulpolitik spielen sich weitgehend in Tausenden von Schuldistrikten ab, deren Aufsichtsgremien aus allgemeinen Wahlen hervorgehen - und mindestens insofern ist die Idee anerkannt, dass die Schule alle angeht, ob sie Eltern und/oder Lehrer sind oder nicht. Die Kehrseite dieser Beteiligungschancen besteht in dem Vorteil für "intensive Interessen", worunter man von der so genannten Christlichen Rechten bis zu Homosexuellen jene Gruppen unterschiedlichster Art versteht, die bestimmte Anliegen in die Schule hineintragen wollen.

Noch "intensiver", weil weniger sichtbar, ist freilich die Interessenpolitik im gewohnten Sinne. Das heißt in diesem Falle, dass die Lehrergewerkschaften an beiden Seiten des Tisches sitzen, also z. B. Kandidaten für das Aufsichtsgremium finanziell unterstützen, die später gerade gegenüber den Lehrern die Interessen der Allgemeinheit vertreten sollen.

Eine zweite auffällige Besonderheit des amerikanischen Bildungswesens, das Nebeneinander öffentlicher und privater Schulen, ist ein Erbstück des 19. Jahrhunderts, also der Masseneinwanderung aus Europa. Wie in anderen Ländern auch wurde die öffentliche Schule damals als ein Integrationsinstrument, als der wichtigste Beitrag zur nationalen Einheit propagiert, weshalb viele Einwanderer befürchteten, dass dabei nicht nur Iren und Galizier zu Amerikanern, sondern auch Katholiken und Juden zu Protestanten gemacht werden sollten.

Einwanderer gründeten jedenfalls unzählige eigene Schulen, um einerseits ihren Kindern die Eingliederung in die Neue Welt zu erleichtern, aber andererseits auch noch die Erinnerung an die Alte Welt zu bewahren. Solche Schulen einzurichten, fiel den katholischen Einwanderern leichter, weil sie die Pfarreien als Organisation und als rechtlichen Träger nutzen konnten und weil die religiösen Orden das Personal stellten.

Heute, nachdem die Enkel und Urenkel in die Einfamilienhäuser der Vorstädte gezogen sind, finden sich daher im Stadtzentrum noch immer die katholischen Schulen - und da sie einen besseren Ruf genießen als die städtischen Schulen, würden viele der schwarzen Baptisten, die jetzt in diesen Stadtvierteln leben, ihre Kinder gerne in die Schulen schicken, in deren Treppenhaus das Bild des Papstes neben der amerikanischen Fahne hängt - wenn sie das Schulgeld bezahlen könnten.

Wenn es also in den Innenstädten große Schulen mit allerlei Sicherheits- und Disziplinproblemen gibt, deren Schüler in den Leistungstests immer wieder schlecht abschneiden, während um die Ecke Schulen liegen, die solche Probleme nicht kennen, denen es aber allmählich an Schülern fehlt, dann scheinen die Lösungen auf der Hand zu liegen.

Private Stiftungen und schließlich auch Schulbehörden boten bedürftigen Familien Gutscheine im Wert der Gebühren privater Schulen an. Eltern, denen die Ausbildung ihrer Kinder wichtig war, konnten sich für eine Schule ihrer Wahl entscheiden.

Die Schulbehörde musste pro Schüler meist deutlich weniger aufwenden als in den eigenen Schulen und konnte vor allem auf diese Schulen einen gewissen Druck ausüben. Die privaten Schulen schließlich erhielten eine Perspektive und wurden außerdem oft gerade in den heruntergekommenen Stadtvierteln zu einem Kristallisationspunkt von Selbstorganisation, die über die Schule hinausreichte, weil sie die aktiveren Eltern anzogen. Allen Seiten schien gedient zu sein, doch dann drohte diese Alternative an einem verfassungsrechtlichen Einwand zu scheitern.





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