Frankfurter Rundschau 09 10 02

Der Wettbewerb könnte in die Schulen einziehen

Die amerikanische Diskussion um Bildungsgutscheine ist neu angefacht worden / Von Michael Zöller TEIL 2


III. Von "Wall of Separation" zu "True Individual Choice"

Wenn Behörden Gutscheine ausgeben, so das Argument der Kritiker, dann landen Steuergelder wahrscheinlich auch in kirchlichen Einrichtungen und damit werde jene Trennwand, jene wall of separation, durchlöchert, die die Verfassung zwischen den Religionsgemeinschaften und dem Staat aufgerichtet habe.

Sieht man freilich genauer hin, so stellt sich heraus, dass von dieser undurchlässigen Trennwand in keinem der Verfassungstexte die Rede ist. Der Begriff stammt aus einem Brief Jeffersons und wurde vom Supreme Court in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt aufgegriffen.

Die Verfassung spricht in dem berühmten ersten Zusatzartikel nur davon, dass es keine etablierte, also staatlich verordnete und privilegierte Religion geben dürfe (Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof).

Diese Bestimmung stellt eine Reaktion auf die Lage vor der amerikanischen Revolution dar, denn in den dreizehn Kolonien hatte, wie in Europa, das religionspolitische Prinzip des "cuius regio eius religio" gegolten, wonach es in jedem Gebiet eine verbindliche offizielle Religion geben sollte.

Dieses "religious establishment" wurde nicht in allen Kolonien gleich rigoros gehandhabt, doch wer z.B. in Virginia nicht der Church of England angehörte, der konnte jedenfalls kein öffentliches Amt ausüben und musste mindestens indirekt über seine Steuern auch zur Finanzierung dieser etablierten Kirche beitragen. Die Revolution beseitigte dieses System der Verknüpfung von Staat und Kirche und setzte auch im Bereich der Religion die Wahlfreiheit durch. Entsprechend fordert der genannte Verfassungszusatz das so genannte Disestablishment, das man positiv formuliert auch als die Voraussetzung jenes freien Marktes der Religionen bezeichnen kann, der sich in den USA entwickelt hat.

Diese Forderung der Bundesverfassung wurde zwar erst allmählich auch in den Einzelstaaten verwirklicht, aber dann schien sie sich erledigt zu haben - bis sie schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu interpretiert wurde, um der öffentlichen Unterstützung des Besuchs privater Schulen enge Grenzen zu setzen.

Dabei wurde zunächst freilich nicht davon gesprochen, dass viele öffentliche Schulen der Konkurrenz der privaten Schulen nicht gewachsen waren. Stattdessen rückte das Argument in den Vordergrund, dass die Unterstützung individueller Schüler auf eine verfassungsrechtlich bedenkliche Förderung von Religionsgemeinschaften hinauslaufe, da diese den größten Teil der Privatschulen betreiben.

Für unzählige von Kirchen und Stiftungen betriebene Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen gilt freilich das Gleiche, und außerdem hatte der Kongress nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schon ein besonders erfolgreiches "Gutschein-Programm" geschaffen.

Diese so genannte "GI Bill" bot den heimkehrenden Soldaten Darlehen und Zuschüsse, um ein Haus zu bauen oder an einem College ihrer Wahl zu studieren. Auf diese Weise wurde nicht nur Zehntausenden der Enkel von Einwanderern der Weg in den Mittelstand geebnet, sondern auch manche kleine Ordensschule in eine prosperierende Privatuniversität verwandelt. Die Schule dagegen galt auch in Amerika nach wie vor als neuralgischer Punkt, weil sie als Instrument der Indoktrination gefürchtet und begehrt war.

So versuchten der Supreme Court und andere Gerichte in vielen Streitfällen, die ihnen von organisierten Gruppen zugespielt wurden, zwischen der Förderung von Schülern und der indirekten Förderung von (religiösen) Institutionen eine Trennlinie zu definieren.

Dies führte freilich zu teilweise haarspalterischen Unterscheidungen wie etwa derjenigen, dass öffentliche Zuschüsse für Schulbücher, nicht jedoch für Landkarten, verfassungskonform seien. Daniel Patrick Moynihan, der bekannt scharfzüngige Senator von New York, fragte deshalb, was die Richter denn von einem aus Karten bestehenden Buch, also einem Atlas hielten.

Das Gericht hat sich nun selbst aus der Verstrickung in solche Spitzfindigkeiten gelöst, indem es mit seinem Urteil von diesem Sommer das Prinzip der Wahlfreiheit in den Vordergrund stellte und außerdem betonte, der Verfassung gehe es nicht um direkte oder indirekte Förderung von Religion, sondern um die staatliche Propagierung von Religion.

Wenn öffentliche Gelder in der Form von Bildungsgutscheinen schließlich in der Montessorischule oder in St. Marys School landeten, so gehe dies offenbar nicht auf eine staatliche Entscheidung zurück, sondern auf die "true individual choice", die Wahlentscheidung der Eltern. Entscheidend sei, dass der Staat keine Bewertung vorgenommen habe, die indirekte, nicht vom Staat vorbestimmte Förderung sei kein endorsement, keine Empfehlung einer Religion.

Die Entscheidung des Supreme Court reicht auch deshalb über die amerikanischen Verhältnisse (und über die Bildungspolitik) hinaus, weil Gutscheine nur eine jener Alternativen zur bisherigen Form des Sozial- und Leistungsstaates sind, die in den ordnungspolitischen Diskussionen westlicher Demokratien zunehmend beachtet werden. Gutscheine sind nur eine Variante des Versuches, von der Objektförderung zur Subjektförderung überzugehen. Damit ist gemeint, dass die öffentliche Hand zwar weiterhin vielerlei Dienstleistungen bieten soll, aber nicht, indem sie die entsprechenden Institutionen unterhält, sondern indem sie deren Benutzer unterstützt. Dadurch käme es verstärkt zum Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Anbietern, und der Staat würde von der Verantwortung entlastet, allein und verbindlich den Bedarf zu definieren und in ein entsprechendes Angebot zu übersetzen, also z. B. die Bildungsziele zu definieren.

Nachdem die Verfassungsdogmatik der Weiterentwicklung des Gutscheinmodells nicht mehr im Weg steht, wird die theoretische Entwicklung sich zunächst auf die Standards, also die Vergleichbarkeit konzentrieren.

Müssen Qualitätsmaßstäbe politisch definiert werden und wie können sie durchgesetzt werden? Oder bietet die Konkurrenz bereits eine ausreichende und schneller wirkende Kontrolle, indem sie schlechte Schulen beseitigt?

Die Entscheidung über die Zukunft des Projektes wird dagegen in der Politik fallen, wobei eine interessante Verschiebung von Allianzen zu beobachten ist. Diejenigen Bevölkerungsgruppen, die von Bildungsgutscheinen besonders profitieren würden und sich daher auch zunehmend dafür aussprechen, sind Minderheiten, die in den Innenstädten wohnen, und gehören zur traditionellen Wählerklientel der Demokraten, die sich trotz Moynihan vorerst unter dem Druck der Lehrergewerkschaften gegen Gutscheine sperren. In den Vorstädten dagegen, wo es die besseren öffentlichen Schulen gibt, besteht kein großes Interesse daran, die Gutscheine von Schülern aus dem Stadtzentrum einzulösen, und das wissen auch die Republikaner, die für Gutscheine sind, aber hier ihre Klientel haben.



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