http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel2101.p
hp
SZ 19 10 02
Die verdrängte Vergangenheit
Teils aus Treue, teils aus Unsicherheit drücken sich viele ostdeutsche Lehrer vor der Aufarbeitung der DDR-Geschichte
Von Jens Schneider
Die wahre Geschichte aus der DDR, die Michael Beleites den Dresdner Gymnasiasten mitbrachte, handelte von Jugendlichen. Das Schicksal eines Gleichaltrigen in den Fängen der Stasi sollte den Schülern deren Methoden besonders eindringlich vermitteln. So hatte es der sächsische Beauftragte für die Stasi-Unterlagen schon oft gemacht.
Beleites’ Geschichte war ein widerwärtiger, aber nicht besonders dramatischer Fall. An einer Dresdner Schule hatte in den 80er Jahren eine Klasse in einem unkontrollierten Moment die Gelegenheit zum Austausch mit Schülern aus der Partnerstadt Straßburg genutzt. Bald wurde der Aufsatz eines französischen Schülers herumgereicht, in dem er nach einem DDR-Besuch seine Gedanken zusammenfasste – und die tristen Seiten des Regimes durch den Kakao zog. Von einem Lehrer entdeckt, wurde der Aufsatz schnell zu klassenfeindlichem Schrifttum erklärt. Nicht nur das Kollegium nahm die Klasse in Engführung. Auch die Stasi interessierte sich. Einige Lehrer nannten ihr Namen von Schülern, die als Spitzel dienen könnten.
An diesem Beispiel wollte Beleites – aus den Akten zitierend – nun Funktionsweise und Allgegenwart der Stasi belegen, hätte nicht zuvor eine peinliche Erkenntnis einen Lehrer sehr erregt. Das Fallbeispiel stammte nämlich genau aus jenem Gymnasium, deren heutige Schüler Beleites vor sich hatte. Die Identität der Lehrer, die nicht als Inoffizielle Mitarbeiter, sondern offiziell mit der Stasi kooperiert hatten, war leicht erkennbar – drei unterrichten heute noch dort.
Beleites ist kein Eiferer, der Leute zur Strecke bringen will. Ihm gehe es darum, die Funktionsweise der Diktatur bewusst zu machen, erklärte er den Lehrern, das Beispiel habe er ohne Absicht gewählt. Doch sein Referat fand hier sein Ende, die Lehrer empörten sich.
Sachsens Stasi-Beauftragter weiß seither noch genauer, weshalb es meistens nicht leicht fällt, sein Anliegen an Schulen zu vertreten. Wenn er die düsteren Seiten der DDR vermitteln wolle, stoße er oft auf eine Front der Ablehnung. Vor allem an Schulen, wo der Kern des alten sozialistischen Lehrerkollektivs noch erhalten sei, zeigten sich auch Schüler oft ungerührt. Das sei doch alles gar nicht so schlimm gewesen, hört Beleites dann. Ihre Eltern hätten in der DDR gut gelebt und kennten niemanden, der gelitten habe. „Die Quintessenz lautet: Repression war vermeidbar“, fasst der Stasi-Experte seine Erfahrungen zusammen. „Wer verfolgt wurde, war also selber schuld.“ Gewiss gebe es Ausnahmen, aber Schulen, in denen man widerstrebend über die Vergangenheit redet, seien die absolute Mehrheit.
Zweiter Weltkrieg und Schluss
Der sächsische Landesbeauftragte beklagt ein Dilemma, das man aus allen neuen Bundesländern kennt. Kritiker befürchten, dass eine Generation junger Ostdeutscher aufwächst, die ihre Geschichte nicht kennt. Viele Geschichtslehrer würden wegen eigener Verwicklungen und der Diskrepanzen zwischen Vorgaben des Lehrplans und dem eher harmonischen DDR-Bild vieler Eltern das heikle Thema umgehen. Am liebsten halte man sich beim Geschichts- Lehrplan am Zweiten Weltkrieg so lange auf, bis Ferien sind – die DDR fällt dann flach. Nicht immer aber ist es Treue zum alten Regime, sondern häufig überwiegt auch Unsicherheit im Umgang mit der Geschichte.
Bereits im letzten Jahr bat die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, in einem Brief an die ostdeutschen Kultusminister um Abhilfe. Sie verglich die Situation im Osten mit jener der Bundesrepublik im Jahr 1957. Damals habe man sich auch nicht um den Nationalsozialismus gekümmert. Unangenehme Erinnerungen, die mit schmerzhaften Fragen an sich selbst verbunden seien, würden eben nicht gern hochgeholt.
Dabei werden ostdeutsche Lehrer seit Jahren in Fortbildungen für den Umgang mit dem heiklen Thema geschult. Die Länder verweisen auf ihre Lehrpläne, die sicherstellen, dass keiner sich um das Thema herummogeln kann. Gezielt habe man die Lehrpläne so geändert, dass für den chronologischen Durchgang im Fach Geschichte bestimmt genug Zeit bleibe, erklärt Wilfried Burger vom sächsischen Kultusministerium: „Da kann kein Lehrer sich mit der Ausrede aus der Affäre ziehen: Tut mir Leid, ich hab’s einfach nicht geschafft.“ Burger weist auch auf die große Zahl von Abiturienten hin, die Geschichte als Leistungskurs wählen – und gewiss eine gründliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer Eltern erlebten.
In Potsdam kann Ulrich Ernst, Fachaufsicht für Gesellschaftswissenschaftliche Fächer im Kultusministerium, auf ein großes Arsenal an Unterrichtsmaterial verweisen, das sich mit DDR-Geschichte befasst. Brandenburg hat als Reaktion auf den Birthler-Brief als bisher einziges Land kürzlich eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundesbeauftragten unterzeichnet, die „eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und dem Leben von Menschen unter den Bedingungen der Diktatur“ fördern soll. Geplant sind Fortbildungen von Lehrern und Fachkräften in der Jugendarbeit sowie der Einsatz von Zeitzeugen. Auch sollen Schulen die Kompetenz der Birthler-Behörde nutzen und bei der Fortbildung Eltern einbeziehen.
Während das CDU-regierte Sachsen zögerlich reagierte, liegen die Verhandlungen der Birthler-Behörde mit dem SPD/PDS-geführten Mecklenburg- Vorpommern sogar auf Eis. Kritiker argwöhnen, dass man Rücksicht auf den Koalitionspartner nehmen müsse. In Schwerin störte man sich daran, dass die DDR im Vertrag als „Diktatur“ und „Lehrer als Säulen und Stützen der Diktatur“ bezeichnet werden sollten, so die Sprecherin von Kultusminister Peter Kauffold (SPD). Der Minister nahm aber nach öffentlicher Kritik im Frühjahr in einem Brief an die Geschichtslehrer des Landes deutlich Stellung. Er wies pauschale Urteile über Pädagogen zurück, bemängelte aber, dass viele sich mit dem Thema schwer täten: „Schüler erfahren viel zu wenig. “ Nachdrücklich forderte der Minister, dass jeder Schüler wissen müsse, „wie und in welchem politischen System die Eltern gelebt haben“. Das schließe „die inhumanen Praktiken der Staatssicherheit, aber auch die Leistungen ihrer Großeltern und Eltern ein“.
Ausgerechnet aus Schwerin meldet der Landesbeauftragte für Stasi- Unterlagen, Jörn Mothes, jetzt beachtliche Fortschritte. Mothes ist als Kritiker der Defizite im Umgang mit der DDR-Geschichte bekannt. Seit langem konzentriert er sich mit seinen Kollegen – in Kooperation mit dem Landesinstitut für Lehrerfortbildung – auf die Situation an den Schulen und stellt nach vielen Besuchen dort eine deutliche Öffnung fest.
Rückschlag durch Abwanderung
„Es gibt keine geschlossenen Fronten mehr“, sagt Mothes. „Im Prinzip ist die öffentliche Debatte so weit, dass sich keiner mehr verstecken kann.“ Sein Team könne sich vor Anfragen kaum retten. Sehr behutsam müsse man in den Gesprächen vorgehen, weil es oft um die persönliche Geschichte der Lehrer gehe. Manchmal sei es wichtiger, sich auf ein langes Gespräch mit einer ehemaligen Parteisekretärin einzulassen, als stramm beim Thema Stasi zu bleiben. „Wenn die Leute sich selber öffnen“, glaubt Mothes, „sind sie auch offen im Unterricht.“
Einen Rückschlag fürchtet Mothes jedoch vor allem durch die Abwanderung von jungen ostdeutschen Lehrern und Pädagogen aus dem Westen, die heimkehren – vor allem, weil im Westen besser bezahlt wird. Die würden im Land dringend gebraucht, weil sie Bewegung in die Kollegien bringen.
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.