An der Elbe der Bildung (Teil 1)

Herz und Verstand oder Was unserer Erziehung wirklich fehlt

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hp

Educator, „Erzieher“, steht als Berufsbezeichnung neben meinem Namen in amerikanischen Nachschlagewerken. Hierzulande steht „Sprachwissenschaftler“. Ein bedeutsamer Unterschied in der Wahrnehmung des Berufes eines Universitätsprofessors. Dieses allgemeinere Wort educator, „Erzieher“, hat mich einigermaßen überrascht, als ich es zum ersten Mal las. Und es hat mich ganz merkwürdig stolz gemacht. Denn in der Tat geht es ja auch an der Universität nicht nur um fachwissenschaftliche „Lehre und Forschung“, sondern auch allgemeiner um Erziehung. Sicher werde ich diesem hohen Anspruch nicht gerecht. Aber dennoch: der Titel des Erziehers macht die Tragweite meines Tuns deutlich, er schließt mich ein in die große Sphäre der Erziehung, die bei uns ja auch „Bildung“ heißt. Wir Universitäts- Edukatoren sitzen nicht in einer anderen Sphäre, der Sphäre Wissenschaft, sondern im Land der Erziehung. Es ist dasselbe Land: education reicht vom Kindergarten bis zur Hochschule. Weil ich ein Erzieher bin, erlaube ich mir, etwas gänzlich Unfachwissenschaftliches (ich bin weder Erziehungswissenschaftler noch Bildungsforscher) zur Erziehung zu sagen.

Der Ruck, der nach dem Pisa-Erdbeben Deutschland erschüttern sollte, ist im permanenten Wackeln des Puddings Kultusministerkonferenz untergegangen. Den Schrei, der dieses Land aufgeschreckt hat und eigentlich wachhalten müsste, haben die Korkwände dieser schlimmsten Institution der Republik verschluckt. Die Minister haben reflexhaft erklärt, wie wunderbar es trotz Pisa in ihrem Ländle ist, oder – wenn es nicht so wunderbar war – welche herrlichen Reformprojekt sie schon auf den Weg gebracht haben. In Japan hätten sich die entsprechenden Damen und Herren wahrscheinlich öffentlich entleibt. Aber bei uns sind sie alle sechzehn noch im Amt. Und dann haben sie kühn ins Auge gefasst, einheitliche Leistungsstandards für die Schulen der ganzen Republik festzulegen. Nun sollen schon im kommenden Jahr die entsprechenden Richtlinien vorliegen. Wir sind erschüttert ob so viel Tatkraft und Reformphantasie. Wie das dann realisiert – oder wie wir jetzt sagen: implementiert – wird, das weiß man allerdings noch nicht. Der in solchen Fragen übliche Abschuss eines Staatsvertrags nimmt Jahre in Anspruch.

Land der Sprachlosen

Die Große Reformerin aus dem Bundesministerium für Bildung (sic!) und Forschung hat sich in die skandinavischen Gewinner-Länder begeben. Dort hat sie das Bundes-Heilmittel für die Pisa-Krankheit gefunden: Ganztagsschulen. Immerhin. Viel Geld will sie dafür aufwenden, eine Milliarde pro Jahr. Klingt viel, ist aber lächerlich wenig. Und nun schau'n wir mal, ob das Geld dafür auch wirklich da ist, jetzt nach den Wahlen und bei klammen Kassen.

Aber: Leistungsstandards da, Ganztagsschule hier, das kann ja wohl nicht alles sein? Wo bleibt das Ganze, wo der radikale Neuanfang? Wo sind die Frauen und Männer, die die große Aufgabe endlich in Angriff nehmen? Die
Hartz- Kommission der Bildung? Ohne eine große Bewegung werden die unzureichenden, unkoordinierten und herzlosen Vorschläge im Bermuda-Dreieck der Bund-Länder- Kompetenzen untergehen.

Dabei ist die Situation so schlimm, dass nur ein wirklicher Neuanfang – und zwar schnell, kräftig und radikal, auf allen Ebenen, in Kindergarten, Schule, Hochschule, Elternhaus – die Sache retten kann. Dazu braucht man eigentlich nicht nach Finnland zu fahren: Im Grunde weiß jeder, wie es aussehen muss, nämlich: education, education, education. Morgens, mittags und abends, also ganztags, da hat die Ministerin schon recht. Und natürlich soll auch etwas geleistet werden, da hat die KMK schon recht. Aber es fehlt, was das Ganze zusammenhält: Es fehlt das Herzstück, es fehlt das Herz. Das Herzstück ist eine generöse Politik sprachlicher Erziehung, und das Herz ist das Herz: die Begeisterung, der Enthusiasmus oder meinetwegen auch die Verzweiflung.




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