An der Elbe der Bildung (Teil 2)

Herz und Verstand oder Was unserer Erziehung wirklich fehlt

Was die Spracherziehung angeht, so müssen der unabweislichen Einsicht in die Notwendigkeit des Erlernens der deutschen Sprache nicht zögerliche, geizige und schikanöse Halbprojekte folgen, sondern großherzige Angebote und Riesenanstrengungen, und zwar Anstrengungen nicht nur der Schulen und nicht nur der Immigranten, sondern Anstrengungen auch oder gerade der Inländer. Wenn ein immer größer werdender Anteil der Schüler an deutschen Schulen kein Deutsch kann, wird Deutschland auch den nächsten Pisatest vermasseln. Wir müssen mit unseren Kindern sprechen, und zwar möglichst deutsch, und wir müssen sie zum Lesen motivieren. Und die Altbewohner müssen auf die Immigranten zugehen und mit ihnen und vor allem mit ihren Kindern sprechen, mit ihnen deutsch sprechen.

Aber wie soll das geschehen, wenn die Bewohner und ganz besonders die Eliten dieses Landes ihre Sprache nicht lieben und sich am liebsten, wie Christian Meier formuliert hat, aus dem Deutschen wegstehlen würden? Die Reichen, Starken und Schlauen schicken ihre Kinder längst auf globalenglisch- sprachige Schulen, betrachten das Deutsche als diskriminierenden Nazi-Dialekt und niedere Eingeborenensprache und fordern massiv und wirkungsvoll Globalesisch auf allen Ebenen der Erziehung. Warum sollen denn da die Immigrantenkinder Deutsch lernen? Wenn die Eingeborenen selber kein Interesse an ihrer Sprache haben, ist es schwer, die Einwandernden von der Notwendigkeit der Erlernung dieser Sprache zu überzeugen. Das Herzstück fehlt, weil das Herz fehlt – jedenfalls bei denen, die das Sagen haben.

Können wir Sprachwissenschaftler als educators hier etwas tun? Die Liebe zu ihrer Sprache können wir den Deutschen natürlich nicht zurückgeben. Aber wir können versuchen, die Bedeutung von Sprache für das Denken, das Leben, für die Erziehung und die Kultur einer Nation zu verdeutlichen. Und das tun wir auch unermüdlich. Aber gerade deswegen sind Sprachwissenschaftler bei den gedankenlosen Sprachreformen im Erziehungswesen kaum konsultiert worden, sondern nur (anglistische Sprach-)Psychologen.

Dabei ist dieses Land – das haben wir ja im Sommer dieses Jahres mit fast ungläubiger Überraschung gesehen – gar kein herzloses Land: die Menschen freuen sich durchaus, wenn Leistung gezeigt wird und das Glück den Tüchtigen hold ist (WM), und die Menschen packen an, wo das Glück den anderen nicht hold war und wo Hilfe gebraucht wird (Flut). Leistung und Solidarität bewegen die Herzen der Menschen gleichermaßen. Mutlos und neidisch werden sie, wenn Leistung und Glück in Arroganz und Segregation münden und wenn Ungleichheit nicht durch die Erfahrung von Solidarität erträglich gemacht wird.

Könnte es nicht gelingen, die Großherzigkeit – oder Herzens-Bildung – in eine Aktion für die Bildung umzulenken? Die braunen Fluten von Elbe und Mulde haben ein menschliches Potential zutage gefördert, von dem mir niemand sagen kann, es ließe sich nicht auch für ein Großes Erziehungsprojekt nutzen, gegen die Fluten der Un-Bildung. Nicht nur an der Elbe, auch im Land der Erziehung sind Sandsäcke zu schleppen und Deiche zu befestigen. Beim Nachbarn um die Ecke könnte man mit einem Kind deutsch reden, lesen und schreiben. Nur wenn dieses Land sein sprachliches und menschliches Herz auch an der Erziehungs-Elbe einsetzt, werden die (teuren) Ganztagsschulen und die
(billigen) Leistungsvergleiche ihre Wirkung nicht verfehlen.

Und was können wir educators tun? Wir sitzen weitab von dem Kind, das die Sprache nicht kann, mit unseren luxuriösen Problemen: Syntax des deutschen Verbs, französische Tempora, Goethes Wahlverwandtschaften – herrliche weltabgewandte Fragen. Was tragen diese bei zur Problemlösung bei der ungenügenden Sprachbeherrschung, den mangelhaften Transferleistungen, den skandalösen Klassenschranken in deutschen Schulen? Anscheinend nichts. In Wirklichkeit ist unser wissenschaftliches Gespräch das Modell jenes Sprechens, das dieses Land braucht, wenn es künftig in der zivilisierten Welt noch mitreden will: Lesen und Schreiben, Verstehen und Darstellen, Zuhören und Argumentieren, mit Neugier, Verstand und Herz.

Also müssen wir unsere Arbeit vorbildlich tun und in jeder Stunde jenes Gespräch zu führen versuchen, das die Universität ist. Die Elbe der Erziehung ist längst zu uns geschwappt. Aber nicht jammern hilft, sondern das Schleppen von Sandsäcken – und ein radikaler Neuanfang. Hier und da, überall im Land der Erziehung.

JÜRGEN TRABANT



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