Gläserne Schule (2)

Das hinderte die rot-grüne Regierung jedoch nicht, gleich am ersten Tag der Koalitionsgespräche vor die Kameras zu treten und "die Überprüfung verbindlicher Bildungsstandards für die Schulen" zu verkünden. Standards, die es nach Angaben der Bildungsministerin noch gar nicht geben kann.

Die Reaktion der Länderbildungsfürsten ließ nicht auf sich warten. Als "Trittbrettfahrer ohne eigene Zuständigkeiten" spiele sich der Bund auf, erregt sich die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier. "Ich verstehe dies als bewusste Konfrontation des Bundes, um vom Versagen in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich abzulenken."

Unter der Federführung des Frankfurter Pädagogikprofessors Eckhard Klieme wird derzeit die erste Skizze für deutsche Standards in Anlehnung an die internationale Debatte erarbeitet - im Auftrag der Bundesregierung. Bei allergrößter Anstrengung, glaubt Klieme, wird es vier bis fünf Jahre dauern, bis Standards auf dem Pisa-Niveau für die deutschen Schulen entwickelt seien. Fest steht für den Schulforscher: "Die Tests sollen kein eng gefasstes Schulwissen enthalten und überprüfen."

Aber genau solche Standards werden nun in Ministerien aus den Lehrplänen recycelt und aus den Aufgabensammlungen in Schulbüchern kompiliert. Mogelpackungen, die am Ende nur das Büffeln fördern für die Prüfung, um den Stoff anschließend wieder zu vergessen. "Standards müssen die Schüler ermuntern, das Lernen als eigene Sache anzusehen", sagt Klieme. "Sie dürfen nicht als die große Keule geschwungen werden, um Schüler und Lehrer bloßzustellen."

Statt stur Lehrstoff abzufragen, setzen die Schulforscher auf ein neues
Konzept: Kompetenzen. Wenn Angelsachsen oder Skandinavier davon sprechen, blicken sie nicht hoch zum Olymp des Wissens, sondern auf den Alltag. Sie fragen, was Schüler für den Beruf, zum Studieren und für das normale Leben brauchen. Solche Fragen spielen in der Unterrichtsplanung hierzulande bislang kaum eine Rolle. Das sei das Hauptproblem unserer Schulen, analysiert Olaf Köller. "Der Schulstoff wird als mehr oder weniger kontextfreies, reines Wissen vermittelt. Deutsche Lehrer wissen oft nicht so genau, wozu sie einen bestimmten Stoff unterrichten."

Halb gare Tests könnten dazu führen, dass Kinder und Jugendliche noch strenger nach guten und schlechten Leistungen sortiert werden. Dabei sollen nicht die Schüler im Vergleich ihre Qualität beweisen, sondern die Schulen. Amerikanische Erfahrung legen nahe: Je direkter die Tests auf die Leistung der Schüler zielen, desto weniger fördert eine solche Testkultur deren Können. Oder umgekehrt: Je stärker Standards die Qualität des Unterrichts und die Arbeit der Lehrer in den Blick nehmen, desto besser werden dabei die Schülerleistungen.

Mit derartigen Standards könnte "Deutschland Anschluss an den Reformprozess gewinnen, der in den Schulen fast aller Industrieländer läuft", glaubt Eckhard Klieme. Dabei könnten die deutschen Lehranstalten jene Autonomie erhalten, die Schulen in den Pisa-Siegerländern Finnland oder Kanada längst haben. Dort überlassen ihnen die Behörden, welchen Weg sie gehen, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Im Gegenzug wurden diese Ziele als Standards klar formuliert und Verfahren zu deren Überprüfung ausgefeilt. "Autonomie und Rechenschaftspflicht" heißt der Slogan in Kanada.

In Finnland wurde vor fünf Jahren die klassische Schulinspektion komplett abgeschafft. Aber jedes Jahr wird eine Zufallsstichprobe von Schulen getestet. Viele Schulen, die nicht ausgelost werden, machen freiwillig mit und zahlen sogar dafür. Nicht dicke Lehrpläne - wie in Deutschland üblich -, sondern knapp und verständlich gefasste Texte geben die Bildungsziele vor. Das ganze Schulsystem auf weniger als 100 Seiten.

Schweden hat seine Bildungsbürokratie bereits Ende der achtziger Jahre geschlachtet und stattdessen die nationale Evaluationsbehörde Skolverket neben die Schulen gestellt. Im kommenden Jahr wird Skolverket geteilt: Die eine Agentur wird die Schulen evaluieren, die andere wird Ziele formulieren und den Schulen helfen, diese zu erreichen.

Solche Unterstützung für Schulen in Schwierigkeiten gehört in anderen Ländern zum Ensemble der Evaluation. Wenn in Kanada Schulen schlecht abschneiden, machen ihnen die regionalen School Boards Angebote zur Weiterbildung. Lehrer, die schlecht beurteilt werden, müssen sich fortbilden, sonst verlieren sie ihr Zertifikat. In Holland, wo Schultests eine lange Tradition haben, gibt es 40 Unterstützungsagenturen, um Problemschulen auf die Beine zu helfen.

Denn eines steht bei allem Hickhack fest: Durchs Testen allein wird keine Schule besser.



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