Frankfurter Rundschau 31 10 02
Amoklauf - Antwort von Verlierern
Von Ruth Linssen
Die Geiselnahme in der Friedensschule von Waiblingen vor zwei Wochen wecken Erinnerungen - an die schrecklichen Geschehnisse in Erfurt nur wenige Monate zuvor. Dort endete die Rache eines enttäuschten und zurückgewiesenen Schülers äußerst brutal. Glück für die Waiblinger Geiseln, dass der Täter diesmal mit sich reden ließ und dazu gebracht werden konnte, von seinem Vorhaben abzulassen.
Doch nicht nur der relativ kurze Zeitabstand zwischen den beiden Vorfällen und die Aufmerksamkeit, die sie erregten, werfen erneut die Frage auf: Wie kann es zu einer solchen Tat kommen? Wodurch wird ein junger Mensch so hasserfüllt oder geltungssüchtig, dass ihm seine Mitmenschen, ihre Ängste, ihr Leben derart gleichgültig werden, dass er solche Handlungen plant und sogar durchführt?
Genauso breit gefächert wie die Fragen sind die Antworten der Experten. Gerne werden Psychologen befragt, die die "Wurzel des Übels" zumeist in einer fehlgeschlagenen Persönlichkeitsentwicklung und ähnlichen Faktoren verorten, in jedem Fall aber individuelle Ursachen anführen. Dies verleitet aber zu der Vorstellung, diese Ereignisse seien unvorhersehbare Ausnahmen und die Ausführenden pathologisch gestörte Einzeltäter.
Nicht ganz. Denn auch unsere Gesellschaft ist ein Gutteil dafür mitverantwortlich, dass solche Szenarien überhaupt in den Köpfen - leider nicht weniger - junger Leute herumspuken, und von manchen dann eben auch in die Tat umgesetzt werden. Ich ziele nicht auf Gewaltvideos und -games, sondern vor allem auf die für viele Jugendliche mehr als düsteren Zukunftsperspektiven. Die aktuelle, 14. Shell Jugendstudie hat gezeigt, dass rund ein Viertel der Jugendlichen heute allein auf Grund ihrer mangelnden Schulbildung und ihres schwachen sozialen Hintergrunds als abgeschlagen bezeichnet werden können. Die Shellstudie hat viele Belege dafür vorbringen können, dass die Bildungsqualifikation ein entscheidender Faktor für den weiteren Werdegang von Jugendlichen ist. Dementsprechend haben diese Jugendlichen kaum Chancen, als Erwachsene je eine feste Beschäftigung zu finden, geschweige denn, Erfolge im Berufsleben erfahren zu können. Ihr sozialer Abstieg - so es denn für einige von ihnen überhaupt noch abwärts gehen kann - ist vorprogrammiert. Ein weiteres Viertel der heutigen Jugendlichen gilt ebenfalls als wenig chancenreich, ihr Werdegang wird aber von der Konjunkturentwicklung abhängen: So lange es der Wirtschaft leidlich gut geht, werden auch sie am unteren Rand mitlaufen können, sobald der Markt auf Talfahrt geht, gehen sie mit. Insgesamt ist also rund die Hälfte der jungen Generation relativ perspektivlos, hat wenig Aussicht auf sozialen Aufstieg und gesellschaftliche Anerkennung.
Auf der anderen Seite stehen die "Bildungsgewinner", die Jugendlichen, die über gute schulische Qualifikationen und meist auch einen stabilen sozialen Hintergrund verfügen, und die Aufsteiger der kommenden Jahrzehnte sein werden. Ihnen stehen viele Türen offen und sie ergreifen ihre Chancen: diese Jugendlichen gelten der neuen Shellstudie zufolge als zielstrebig, erfolgs- und karriereorientiert.
Kurz: Die soziale Schere wird in den nächsten Jahren noch weiter aufgehen. Und die Scheidelinie für Auf- und Absteiger ist die Schule, die Bildungsqualifikation. Wer in der Schule "versagt", dessen weiterer Lebensweg wird davon geprägt, negativ beeinflusst werden. Das ist auch den Jugendlichen durchaus bewusst. Es ist kein Wunder, wenn der eine oder andere, der durch schlechte Schulnoten zum Versager gestempelt wird, Wut oder Hass gegen die Schule und ihre stigmatisierenden Lehrer entwickelt. Schon eher verwundert es da, dass diese Gefühle (glücklicherweise) nur selten in Taten umgesetzt werden. Phänomene wie Erfurt oder Waiblingen sind also auch ein soziales Problem. Wenn unsere Gesellschaft sich weiter in Richtung einer "Winner-Loser-Kultur" entwickelt, in der niedrig Qualifizierte keine Chancen haben, werden solche Ereignisse keine Einzelfälle mehr bleiben.
--
Diese Liste wird vom Computer Communications Club (http://www.ccc.at) betrieben. Um sich aus der Liste austragen zu lassen, senden Sie ein e-mail an majordomo@ccc.at mit dem Befehl "unsubscribe lehrerforum" im Nachrichtentext.