Rheinischer Merkur 24.10.02

http://www.merkur.de/aktuell/mp/bi_024303.html

SCHULENTWICKLUNG / "Mr. Pisa" Jürgen Baumert über nötige Reformen und alternative Lehrkonzepte

Falsche Fragen nutzen

Die Diskussionen über Klassengröße und Pflichtstundenzahl gehen nicht ans Kerngeschehen der Schule, die Qualität des Unterrichts, heran.

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RHEINISCHER MERKUR: Wie reformresistent oder reformgeschädigt ist die deutsche Lehrerschaft? JÜRGEN BAUMERT:Ich glaube, die Reformen haben noch nicht richtig begonnen. Wir haben immer an der falschen Stelle über Reformen diskutiert: über Strukturreformen, Klassengröße, Pflichtstundenzahl. Diese Fragen sind nicht unbedeutend, aber wir sind nicht an das Kerngeschehen der Schule, das heißt an den Unterricht, seine Qualität und seine Ergebnisse, herangegangen.

Was muss sich am traditionellen Unterricht, bei dem der Lehrer an der Tafel steht und doziert, die Schüler zuhören, mitschreiben und memorieren, entscheidend verändern?
Das Problem des deutschen Unterrichts ist wahrscheinlich nicht die Tatsache, dass die Lehrkraft im Mittelpunkt steht und das Heft in der Hand hält. Das gibt es auch in allen anderen Ländern, die bei den internationalen Vergleichsstudien - zuletzt Pisa - bessere Ergebnisse als Deutschland erreicht haben. Problematisch ist die Logik des Unterrichtsskripts, also die dem Lehrerhandeln zugrunde liegende Idee eines guten Unterrichts. In Deutschland dominiert das Muster des fragend-entwickelnden Unterrichts.

Wie sieht dieser Unterricht aus?
Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Lehrer durch Fragen an den Schüler das latent vorhandene Wissen ans Tageslicht hebt, es reinigt, entfaltet und anreichert. Wenn man diese literarische Kunstform auf den Unterricht überträgt, handelt man sich Probleme ein. Am deutlichsten wird das im Tafelanschrieb, auf dessen Vervollständigung die Lehrkraft den Unterricht hinlenken muss. Um zum Ziel zu gelangen, ist sie auf die richtigen Antworten der Schüler, und zwar bei knapper Zeit, angewiesen.
In der Regel beginnt der Lehrer mit einem komplexen und anspruchsvollen Problem, dessen Bearbeitung relativ viel Spielraum lässt. Da die Schüler das Unterrichtsziel in der Regel nicht kennen, tasten sie sich assoziativ an die vermeintliche Idee des Lehrers heran. Um in 45 Minuten zum vorgegebenen Ziel zu gelangen, muss der Lehrer die Schülerantworten so kanalisieren, dass sie in die geplante Bahn einmünden. Dies geschieht in der Regel durch eine Fragefolge, bei der die Nachfragen von Schritt zu Schritt enger und trivialer werden. Am Ende steht eine simple Antwort, die zu geben Schülern geradezu peinlich sein kann.

Aber die Antwort kommt?
Bei diesem Unterrichtsskript gibt es zwei Typen von "schwierigen" Antworten. Einmal die falsche Antwort. Bei einer konvergent auf ein vorgegebenes Unterrichtsziel ausgerichteten Gesprächsführung kann man Fehler nicht produktiv nutzen. Man kann sie nicht bis zum Ende durchspielen und
fragen: Was folgt eigentlich daraus, wenn wir diese Antwort als richtig annehmen? Man kann aber auch nicht zu den Ursachen des Fehlers zurückgehen und fragen: In welchen Schritten bist du zu dieser Antwort gekommen?
Die zweite schwierige Antwortart ist der wirklich intelligente weiterführende Beitrag, der das Ziel einer Stunde vorwegnimmt. Solche Antworten werden beiseite geschoben oder die kritischen Schüler einfach übergangen.

Wir sprechen viel von Basiskompetenzen für Schüler. Welche Basiskompetenzen brauchen die Lehrkräfte?
Entscheidend ist die Entwicklung professioneller Handlungskompetenz. Dazu gehören die Stärkung des Verantwortungsbewusstseins für die Klienten, die Öffnung des Unterrichts und seiner Vor- und Nachbereitung für den professionellen Blick und die Entwicklung einer Sprache, die es erlaubt, ohne wechselseitige Verletzungen über die eigene Tätigkeit zu reden.

Wie müssen die neuen Lernstrategien aussehen?
Sie müssen erlauben, mit Unterschiedlichkeit intelligent umzugehen. Schon ein Wechsel von Lehrervortrag und Einzel- oder Gruppenarbeit kann mehr Spielraum als der fragend-entwickelnde Unterricht bieten. An Aufgaben für
Einzel- oder Gruppenarbeit können sich leistungsstarke und leistungsschwächere Schüler gleichermaßen bewähren. Dies sind Aufgaben, die unterschiedlich schwierige Teilaufgaben enthalten und, wenn sie besonders gut sind, auch unterschiedliche Lösungen und Lösungswege auf unterschiedlichem Niveau zulassen. Sie werden notiert und anschließend an der Tafel dokumentiert oder vorgetragen und dann im Klassengespräch gegeneinander diskutiert. Diese Form der Unterrichtschoreografie ist im Vergleich zum fragend-entwickelnden Unterricht, der die Lehrkraft psychisch kontinuierlich fordert, bemerkenswert stressarm.

Kann die Schule mit ihren Mitteln den Unterricht weiterentwickeln und sich selbst erneuern?
Langfristig muss sie in die Lage versetzt werden, sich selbst zu arrangieren. Dafür benötigt sie aber Spielräume, geeignete Instrumente und die notwendigen Mittel. Sie benötigt auch freie Finanzmittel, um das einzukaufen, was sie braucht, etwa Zeithilfen oder die Fortbildung, die für die Weiterentwicklung ihres Programms sinnvoll ist. Regulativ der Fortbildung ist nicht das Angebot der Universitäten oder Landesinstitute, aus dem das einigermaßen Passende ausgesucht wird, sondern der Bedarf der Einzelschule. Da die Schulen auf dem freien Markt kaufen, nicht nur bei den staatlichen Anbietern, wird es auch eine implizite Qualitätskontrolle geben.

Geht das ohne Hilfe von außen?
Die Schulen sind am Anfang ihres Veränderungsprozesses auf externe Unterstützung angewiesen, die sie gezielt abrufen können. Das "Sinus"-Programm zur Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts, das von der Bund-Länder-Kommission finanziert wird, funktioniert zurzeit auch deshalb so gut, weil in Netzwerken lokale und zentrale Unterstützung angeboten wird.

Die Kultusministerkonferenz hat Vergleichsarbeiten in der Grundschule und nach der 5. Klasse beschlossen. Wie sinnvoll ist es, mit dieser "Testeritis", wie manche spötteln, immer wieder das Althergebrachte zu evaluieren?
Die Vorstellung, dass die Reform in den Grundschulen erst jetzt beginne, ist gründlich falsch. Die Grundschulen haben in den vergangenen 25 Jahren ein neues Gesicht erhalten. Über die Ergebnisse ist aber so gut wie nichts bekannt. "Iglu", die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung von 2001, ist die erste Studie, die den Blick auf die Erträge der Grundschularbeit freigeben wird. Von Testeritis zu sprechen ist eine Polemik, die darauf zielt, die Voraussetzungen für Verbesserungen, nämlich Transparenz, zu verhindern. Doch wenn sich die Lehrkräfte nicht in ihren Unterricht schauen lassen und ihre Ergebnisse nicht ausbreiten, wird sich wenig ändern.

Ist ein Erfolg absehbar?
Der Erfolg hängt vom Bohren dicker und harter Bretter ab. Wir werden uns mit einer Entwicklungsperspektive von zehn Jahren anfreunden müssen, bis messbare Erfolge nachweisbar sein werden. Aber auch in zehn Jahren wird man nicht alle Schulen erreicht haben. Ein realistisches Ziel könnte sein, den Kreis der wirklich aktiven Schulen zu vergrößern und diese tonangebend werden zu lassen.

Professor Dr. Jürgen Baumert ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Das Interview führte Paul Schwarz.



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