Jugendschützer halten sich die Augen zu
Die Freiwillige Selbstkontrolle der privaten TV-Sender stellt Persilscheine für Gewaltfilme aus / Von Heike Mundzeck
Private Fernsehsender holen immer häufiger Filme aus dem Giftschrank der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Sie schneiden einige Szenen heraus, lassen die Titel von ihrer eigenen Selbstkontrolle als unbedenklich erklären - und schon ist der Horror im Programm. (...)
Der Film heißt "Exposure - die Kunst des Tötens". Zu sehen sind: Selbstjustiz aus Rache, anreißerisch in Szene gesetzte Gewalt als Mittel zur Konfliktbewältigung, Gewaltakte überwiegend in Nahaufnahme, Kultivierung und lehrbuchhaft präsentierte Darstellung des Messers als Tötungsinstrument. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) urteilt: "in weiten Passagen kaum an Grausamkeit zu überbieten". Gefährlich außerdem: Selbstjustiz als Grundhaltung.
Im Jahr 1993 bekam der Streifen die Kennzeichnung "Nicht unter 18 Jahren"; die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) setzte ihn auf ihren Index. Der Film sei geeignet, "Gewaltbereitschaft hervorzurufen oder zu verstärken". Vor allem minderjährige Zuschauer könnten veranlasst werden, den fast liebevoll vorgeführten Umgang mit dem Messer selbst auszuprobieren, fürchtete die Prüfstelle. Neben dessen Kauf und Handhabung werde eingehend erläutert, welche Körperteile besonders verletzlich sind, wo ein Messerstich tödlich wirkt. Die Botschaft laute, Messerkampf sei "eine ausgesprochen virile Angelegenheit".
Trotz der eindeutigen Wertungen: Im vergangenen Jahr lief "Exposure - die Kunst des Tötens" achtmal auf Premiere.
Der Sender hatte den Film der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) vorgelegt - einem von den privaten TV-Veranstaltern finanzierten Verein zur Beurteilung der TV-Eignung von Filmen. Der Gutachter verlangte vier Schnitte, von denen sich aber nur zwei auf die fünf von der Bundesprüfstelle für die Indizierung benannten Gewaltdarstellungen bezogen. Nach der Bearbeitung sah der Gutachter indes keine Inhaltsgleichheit mehr zum Original - und gab den Film zur TV-Ausstrahlung frei.
(...) Nach dem Rundfunkstaatsvertrag sind solche Sendungen unzulässig, wenn keine Ausnahmegenehmigung eingeholt wurde. Das hatte Premiere aber gar nicht erst versucht - wie bei 15 weiteren Fällen dieser Art im vergangenen Jahr.
Das Vorgehen ist immer gleich: Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen erteilt nach einigen Schnittauflagen einen "Persilschein", der Sender vollzieht die Auflage und strahlt den Film meist mehrmals kurz hintereinander aus. Der Landesmedienanstalt bleibt gesetzlich nur die Möglichkeit, nachträglich zu beanstanden. Bei einer Veröffentlichung der Beanstandung oder eines Bußgeldes macht Premiere zwar keinen guten Eindruck auf Teile der Bevölkerung. Aber die zahlenden Zuschauer sind dem Sender offenbar wichtiger.
Selbst wenn am Schnittplatz einige auffällige Gewaltszenen wegfallen, wird die Handlung zumeist kaum erträglicher. Im Gegenteil. Sowohl aus filmdramaturgischer wie aus psychologischer Sicht fehlt in den verkürzten Szenen die Vollendung, die vom Zuschauer aber immer gedanklich und gefühlsmäßig ergänzt wird. Er braucht dieses "Mitgehen", um das Geschehen verarbeiten zu können.
Schon vor 30 Jahren hat die renommierte Medienwirkungsforscherin Hertha Sturm auf die psychischen Gefahren der "fehlenden Halbsekunde" bei zu kurzen Schnitten in Kinderprogrammen hingewiesen. Nur erwachsene, von vielen Gewaltdarstellungen abgestumpfte Zuschauer können mit solchen abrupten Unterbrechungen einer auf Tatvollzug angelegten Darstellung fertig werden. Aufmerksamen Gelegenheitszuschauern jeden Alters dagegen entgehen die Schnittstellen nicht. Sie fühlen sich unbehaglich und irritiert und denken, während der Film weiterläuft, darüber nach, was geschehen ist - oder geschehen sollte. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit, der stecken gebliebenen "Information", begleitet sie anschließend lange mit erschreckenden, quälenden Fotografien vor dem inneren Auge.
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Für länderübergreifende Angebote der privaten Veranstalter wird zwar die neue Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) zuständig sein. Vertreten sind in ihr die Direktoren der Landesmedienanstalten und staatliche Jugendschützer aus Bund und Ländern. Doch der KJM fehlen Kompetenzen; sie kann den Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle nur einen gewissen Rahmen vorgeben und muss deren Beurteilungsspielraum beachten. Wird ein Film von der FSF freigegeben und gesendet, von der Kommission aber als Verstoß gegen den Jugendmedienschutz eingestuft, kann sie eine weitere Ausstrahlung nicht untersagen.
Ein Triumph für die privaten Veranstalter, Durchsetzung des Marktprinzips von Nachfrage und Angebot - auch unter Hinnahme von Verletzungen des Jugendschutzes ? "Wir fühlen uns nicht als Sieger", sagt Jürgen Doetz, Sat 1-Geschäftsführer und Präsident des Verbands Privater Rundfunk- und Telekommunikation (VPRT). "Wir sehen die jetzige Lösung ohnehin nur als Kompromiss, aber wir wollen konsequent den Weg hin zu einer funktionierenden Selbstkontrolle gehen und alles daran setzen, das Misstrauen unseren Anstrengungen gegenüber abzubauen. Denn auch bei den Privaten gibt es das Interesse an einem ernsthaften Jugendschutz." Und er kündigt eine Aufstockung der Finanzmittel für die FSF um zehn bis 20 Prozent an.
Jürgen Doetz versucht schon lange, die privaten Anbieter bei ihrem Bildersturm und ihren Grenzüberschreitungen zu zügeln. In Zeiten der Marktkrise wird das schwieriger. Aber mit Nachdruck legt er noch ein Versprechen drauf: "Wenn ich das Gefühl bekommen sollte, die Selbstkontrolle wird von irgendeiner Seite - den Veranstaltern, der FSF oder auch den Landesmedienanstalten - nur als Feigenblatt betrachtet, dann melden wir die FSF gar nicht erst zur Lizenzierung bei der Jugendmedienschutz-Kommission an."
Der Mainzer Medienrechtler Dieter Dörr gibt indes generell zu bedenken: "Der Jugendschutz ist eine Verfassungsaufgabe. Damit kann es keine völlig freie Selbstregulierung im Bereich von Fernsehen und Online-Medien geben, staatliche Kontrolle bleibt notwendig. Das heißt, die Kommission für Jugendmedienschutz muss die FSF überwachen." Demnach bliebe der KJM und den Landesmedienanstalten - trotz Beurteilungsspielraum und rechtlicher Bindung an die Voten der Selbstkontrolle - doch das Entscheidungsrecht, wenn die Anbieter sich nicht an die Bestimmungen des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags halten.
Auf dem Prüfstand stehen die neuen Vorgaben spätestens in drei Jahren.. Dann soll entschieden werden, ob der Einfluss der KJM auf die Selbstkontrolle ausreicht - und so ein effektiver Jugendschutz gewährleistet ist.
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