Mit dem Satz beginnt: "Mir fällt zu Hitler nichts ein." hat Karl Kraus "Die dritte Walpurgisnacht" eingeleitet, 1933 geschrieben, aber diese Schrift wurde erst 1952 nach seinem Tod (1936) veröffentlicht. Er erklärte sein Schweigen mit der Ohnmacht der Satire gegenüber der Wirklichkeit. Kraus hat die ursprünglich geplante Veröffentllichung in der "Fackel" rückgängig gemacht.
Richtig oder nicht? Auch ich habe manchmal das Gefühl satirisch schreiben zu müssen und einzuleiten, "Mir fällt zu Sch. nichts ein",
- und dabei offen zu lassen, welchen Sch. ich meine - um nachher vermutlich auf mehr als nur 80 Seiten (wie G. Ernst) zu kommen.
- Aber wie löst man wirklich das Problem der Ohnmacht der Satire? Heute meinte im ARD-Fernsehen ein Mainzer Politologe, vor 20 Jahren hätten Gewerkschaften gegen die Schröder-Politik Demonstrationen veranstaltet und Zehntausende auf die Straßen gebracht, aber heute ist in Deutschland die Entpolitisierung so weit vorangeschritten, dass die Leute nur mehr beim Radio anrufen und dort den neuen "geilen" Kanzlersong auf ihre Wunschliste setzen lassen. Ausdruck dessen, dass sie Freude am eigenen Beschiss haben?
G:W.
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http://www.rstreibel.net/?seite=rez/extra.php&id=01
Kein Plädoyer für Schneisen in der Literatur
Gustav Ernst Rede "Die Frau des Kanzlers" beschwört Thomas Bernhard. Doch auch schimpfen will gelernt sein.
Robert Streibel
Wenn ein Buch "Die Frau des Kanzlers" heißt und nach vierzig Zeilen klar ist, dass der Kanzler musikalisch ist und verschiedene Instrumente spielt, wissen wir, hier wird der Leser nicht durch ein Labyrinth geführt, hier hat der österreichische Autor Gustav Ernst, zuletzt wurde sein Theaterstück "Strip" in der Gruppe 80 uraufgeführt, vorsorglich mit einem Bagger eine Schneise geschlagen, damit ja keine Mißverständ- nisse aufkommen, der Leser nicht abbiegen kann, nicht zur Seite schauen muss, nicht viel nachzudenken braucht: Ähnlichkeiten mit lebenden Objekten sind beabsichtigt. Politik ist eine Sache und Literatur eine andere. Auf die Schneise von Ernst muss eine Tangente des Rezensenten folgen. Es ist nicht üblich und auch nicht notwendig, dass ein Rezensent bei einer Besprechung seinen politischen Standpunkt bekanntgibt, in diesem Fall sei dies erlaubt: Ich bin kein Freund der noch amtierenden Regierung und kein Freund des noch amtierenden Bundeskanzlers. Weil ich diesbezüglich keinerlei Ambitionen hege, ärgert mich aber der Text. Die Literaturschneisen des Agitprop sind nicht meine Sache, gerade Wege mögen notwendig sein für eine Autobahn, für eine Landebahn eines Flughafens, aber in der Literatur...
Ich habe den Ärger hinuntergeschluckt und weitergelesen: Ein Versuch, dem ersten Eindruck nicht auf den Leim zu gehen. Die Wut, die den Autor getrieben hat, kann ich noch nachvollziehen, doch Wut ist ein schlechter Lehrmeister. Nach einigen Seiten gibt es trotz der Direktheit auch Zwischentöne. Politiker kommen im Zeitalter der inszenierten Begegnungen selten in Kontakt mit den Betroffenen ihrer Maßnahmen. Die Ehefrau wird hingegen beim Einkaufen jedoch "gestellt" und zur Ambulanzgebühr gefragt und im Lehrerzimmer gefragt, warum ihr Mann nichts zu den Beschimpfungen des Lehrerstandes gesagt habe und warum er so lange geschwiegen habe zu den "Judenwitzen". Ein realistisches Szenario, so realistisch wie die Beschreibung des Arbeitsalltages und der notwendigen Persönlichkeitsspaltung "Nicht ein Mal habe ich betont, was für ein haushoher Unterschied besteht zwischen dem, was du im Anzug sagst, was du sagen mußt, und dem, was du im Pyjama sagst. Und daß du im Anzug sagst, was du sagen mußt, und im Pyjama, was du nicht sagen darfst.
Die Requisiten des Textes sind allseits bekannt. Der Kanzler spielt Klavier, spielt Cello und Wanderlieder auf dem Akkordeon. Seit Koalitionsbeginn spielt er nur mehr Mozart und die Frau des Kanzlers stellt von Anfang an klar: "Ich möchte mich von dir scheiden lassen. Du brauchst keine Anstalten zu machen, mich davon abzuhalten. Mein Entschluß steht fest. Er steht schon lange fest. Seit du die Regierungskoalition, die du nicht hättest eingehen dürfen eingegangen bist. Das weißt du. Ich habe gesagt, wenn du diese Koalition eingehst, dann lasse ich mich scheiden.
Kunst darf alles, und wer die Dinge so beim Namen nennt, könnte auch Namen nennen, wenn dies nicht geschieht, dann nur, um den Schein zu wahren, dass hier kein Leitartikel geschrieben wurde, sondern ein literarischer Text. Die Schimpf- literatur hat ein neues aktuelles Beispiel. Es gibt keine Tabus mehr, alles ist erlaubt, Thomas Bernhard ist tot, es lebe Gustav Ernst, doch so tot ist Bernhard auch wieder nicht, dass nicht jeder literarisch Interessierte merken muss, dass sich hier Welten auftun: Denn auch schimpfen will gelernt sein. Nichts wird ausgelassen, in dieser psychologischen Ferndiagnose, die sexuelle Verklemmtheit ebenso wenig wie die Probleme im Eheleben und die Realität eines Muttersöhnchen zum Beispiel: "Dank deiner Mutter, die sich in den Kopf gesetzt hat, noch zu erleben, daß du vollständig der Abklatsch deiner damaligen Anzüge geworden bist. Ein einziges Desaster. Wenn auch verständlich, wo man doch schon ohne Mutter Mühe hat, später nicht ein Abklatsch dessen zu werden, wie man als Kind hatte sein sollen.
Natürlich entwickelt der Text einen Sog, natürlich weiß der Autor um die Bedeutung der Variation und des retardierenden Moments, doch die Plattheiten ärgern bis zum Schluss und werden nicht stimmiger, in dem sie wiederholt werden. Diese "Rede" ist ein Text, der mit dem Skandal spekuliert, ein Text, der aber auch die Frage aufwirft, wie persönlich verletzend Literatur sein darf. Dass keine Namen genannt werden ist dabei eine halbherzige Entgegnung. Dass Menschen durch politische Maßnahmen sehr wohl auch persönlich verletzt werden, muss schon viel eher als Einwand gelten. Dass das Schweigen zu haarsträubenden Aussagen "des" Vizekanzlers zeigt, wie weit die "Ekelschwellen" der politischen Opportunität angepaßt werden wiegt schwer, aber dennoch, Politik als innerfamiliären Konflikt auszutragen, geht zu weit, vor allem dann, wenn der Eindruck entsteht dass es als besonders mutig gilt, wenn der Frau des Kanzlers eine Charakterisierung in den Mund gelegt wird, die man ihr einfach nicht zutrauen würden. "Ja, du hast richtig gehört, Sch..regierung! Auch wenn mir ein solches Wort nie über die Lippen gekommen ist! Jetzt kommt es!" Das ist ein bißchen pubertär vielleicht und paßt eher in ein schlechtes Kabarett. Natürlich ist die Wirklichkeit oft noch viel banaler als jedes Kabarett und in der Tat nehmen Politiker oft Worte und Vergleiche in den Mund, die man wirklich nicht vermuten würde. Doch muss die Literatur ein bloßes Abbild sein? Schneisen durch den Alltag gibt es genug. Abreaktion ist eine Sache, Denkanstöße eine andere.
Gelegentlich muss sich ein Autor abreagieren, um wieder atmen zu können, im Mief und Dunst der falschen Kompromisse, ob damit auch Denkanstöße gegeben werden, das darf bezweifelt werden. Der Ärger, der nach den ersten drei, vier Seiten die Bewertung des Textes bestimmt hat, ist am Ende auch nach einer versuchten Suche nach Gründen, warum dieser Text vielleicht so geschrieben hatte werden müssen, zurückgekehrt. Ein schlechte Politik muss nicht unbedingt mit schlechter Literatur kritisiert werden.
Die Frau des Kanzlers
Eine Rede von Gustav Ernst
Sonderzahl Verlag, Wien 2002
88 Seiten, geb., Euro 14,30
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