Ich fange mit meiner Replik beim letzten Absatz an:
Für mich ist es kein Schreibfehler, wenn Andrea Kuntzl sagt, dass Schule die Aufgaben "ganzheitlich" erfüllen soll. - Wir wollen doch nicht dem Schulsystem irgendwelche "bitteren Pillen" verschreiben, wie in der "Schulmedizin" nur Symptome kurieren, sondern ein Schulsystem, in dem sich alle Beteiligten wohl fühlen, gerne hingehen, mit Freude lernen. "Ganzheitlich" heißt, dass wir hier ganz "zu Hause" sind, auf der körperlichen, der mentalen und der seelischen Ebene. Ein Schulsystem, das nur den Verstand oder nur die Gefühle ansprechen würde, wäre in Disharmonie und anfällig für verzweifelte Versuche, aus einem starr empfundenen System ausbrechen zu müssen.

Natürlich kennen wir vermutlich alle die Diskussionen mit Eltern und v.a. Elternvertretern, die vorrechnen, wie teuer Schule manchen Eltern wirklich kommt, wie viel Nachhilfe da und dort nötig erscheint.

Da fangen wir bei unseren Betrachtungen einmal bei der Realität an: Stimmt denn der Satz des Aristoteles, dass jeder Mensch von Natur aus nach Wissen strebt ...? Ein kurzer Gedanke an unsere Schüler. Was läuft in unserem System schief, dass dieses "Streben nach Wissen" in manchen Klassen an manchen Tagen so schwer zu finden ist, die Schüler so schwer zu motivieren sind? - Einfache Antwort. Die Klassen sind zu groß und zu inhomogen. Was den einen interessiert, findet die andere öd oder blöd usw. Unser System ist noch immer zu sehr auf standardisierte Leistungen fixiert, auf Noten und Benotung, während Kreativität, Einfallsreichtum, Querdenken ... nicht immer zu den sehr geliebten Eigenschaften unserer Kids zählen.

Wie / wie behutsam ... kommt es zu einem Umdenken? Bei dieser
Frage denke ich in Bildern, in Feldern. In Feld 1 schreibe ich
"Realität - Ist-Zustand" , dann benenne ich Feld 3 mit "Utopie", das dazwischenliegende Feld benenne ich mit "Visionen". Und dann lade ich die Menschen ("weil der Mensch zählt") ein, auf diesen Feldern Platz zu nehmen und zu sagen, wie wir uns in der Realität fühlen, dann in Feld 2 und dann in Feld 3. Und in diese Felder beziehe ich in meinen Gedanken alle mit ein, die im weitesten Sinne mit Schule zu tun haben.

Damit bei einer Schulreform was Positives herauskommen kann, müssen wir als Lehrer von alter "Standespolitik" wegkommen, etwa davon, dass wir uns in "Stundentafeln" verkrallen. Das können wir leichten Herzens, weil wir wissen, dass es für uns in Zukunft mehr zu tun gibt, nicht weniger. Es kann für Schüler zu Stundenreduktion kommen, aber wir haben mehr
zu tun. 1) durch Senkung der Klassenschülerhöchstzahl, 2) durch ein
ansprechendes System von wirklichen Förderstunden (die nicht eigentliche Stützkurse sind). [Hinweis: PISA - Beispiel: Finnland] Zur Arbeitszeit und Arbeitsbelastung. Macht es denn hier Sinn, zwischen den Tätigkeiten von Schülern und Erwachsenen zu unterscheiden? Auch wir wollen als Arbeitnehmer eine Situation, wo wir uns wohlfühlen können, wo auf uns als ganze Menschen eingegangen wird ("ganzheitlich"), wo wir ehrlich sagen können, wie wir uns fühlen, was uns gefällt und was wir verändern wollen. Leistung kommt am ehesten aus solchen Arbeitsbedingungen, die uns bereit machen, uns für die Anderen in der Gruppe stark einzubringen.

Günter Wittek



----- Original Message -----
From: K Forstner To: Lehrerforum
Subject: LF: Arbeitsbelastung der SchülerInnen -- Kuntzl

Zu welchem Ergebnis könnte/sollte diese Grundsatzdiskussion führen? Was will Frau Mag. Kuntzl, wenn sie feststellt, "die Kinder haben oft längere Arbeitszeiten als ihre Eltern"? Wie ist diese Aussage, in der für mich die Absicht der Stundenreduktion mitschwingt, mit dem vehementen Bekenntnis zu "Leistung" (bis hin zur Erhöhung der Akademikerquote) in Einklang zu bringen?

Ich frage mich, wann "ExpertInnen" endlich aufhören werden, unreflektiert das Arbeitszeitmodell der Erwachsenenwelt 1:1 auf unsere Kinder zu übertragen. Wer würde allen Ernstes behaupten, dass 10-jährige die vier wöchentlichen LÜ-Stunden als "Arbeit" ansehen? (Weitere Beispiele nach Belieben.)

Wollen wir es unseren SchülerInnen leicht oder schwer machen, Leistung zu erbringen? Sollte die Antwort "(so) leicht (wie möglich)" sein, und sollten damit die Rahmenbedingungen gemeint sein, unter denen Lernen statt finden kann, so frage ich mich, was an die Stelle der entfallenden/gekürzten Pflichtstunden treten würde. Mehr Hausübung? Selbststudium? Freizeit und Fun?

Mehr selbstständiges Arbeiten ohne die ständige unmittelbare Präsenz einer Lehrkraft -- ob nun allein oder im Team -- fände ich okay, vor allem, aber keineswegs ausschließlich in der Oberstufe, denn das wäre eine wichtige Fertigkeit für das spätere Leben. Doch derartige Aktivitäten haben in Österreich keine Tradition: Geprüft wird in der Regel nach wie vor das, was die Lehrkraft im Unterricht vorgetragen hat. Selbstständiges altersadäquates Arbeiten von SchülerInnen in der Schule scheitert gelegentlich sogar an formalen Dingen wie Aufsichtserlass etc. Wie also -- wie behutsam -- würde es in diesem Bereich zu einem Umdenken und einer Umstellung kommen?

Wenn Frau Mag. Kuntzl meint, die Schule müsse ihrer Aufgabe "ganzheitlich" nachkommen, so meint sie wohl "zur Gänze": "Ganzheitlich" würde für mich bedeuten, der Schule noch viel mehr Aufgaben aufzubürden als sie ohnehin schon hat.

K Forstner




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